Lebenslauf:
HERKUNFT UND AUSBILDUNG
Seipel wurde als Sohn eines Fiakers bzw. eines späteren Hausmeisters geboren und absolvierte 1895 das Gymnasium in Wien-Meidling. Danach trat er mit dem Wunsch, Priester zu werden, ins Wiener Priesterseminar ein und begann das Studium an der Katholisch- Theologischen Fakultät der Universität Wien (Dr. theol. 1903). Am 23. Juli 1899 wurde er in Wien zum Priester geweiht.
In den Jahren 1899 bis 1902 war Seipel als Kaplan in verschiedenen Pfarren in Niederösterreich sowie Wien tätig und begann danach eine wissenschaftliche Laufbahn. In diesen Jahren wurde er von der aufstrebenden christlichsozialen Bewegung unter Karl Lueger (Nc EM) und dem Moraltheologen Franz Martin Schindler (Fd EM) geprägt. In den Auseinandersetzungen zwischen dem Reformkatholizismus bzw. Modernismus mit dem Integralismus war er gegen letzteren eingestellt.
AKADEMISCHE LAUFBAHN
Seipel promovierte bei Schindler und habilitierte sich 1908 im Fach Moraltheologie mit der Arbeit „Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter“. Bereits 1909 wurde er zum o. Universitätsprofessor für Moraltheologie an die selbständige Theologische Fakultät in Salzburg berufen. Dort geriet er 1914 in Kontakt mit dem international angesehenen Völkerrechtler Heinrich Lammasch aber auch mit dem Schriftsteller Hermann Bahr.
1916 erschien Seipels wichtiges Werk „Nation und Staat“, das u. a. auch ein Beitrag für eine Reform der k. u. k. Monarchie sein sollte. Für ihn waren Nation und Staat getrennte Begriffe. Er lehnte die Struktur der Doppelmonarchie ab und stand kritisch der kleindeutschen Lösung von 1871 gegenüber. Im August 1917 entwarf er eine Reichsreform, die auf einer starken Autonomie der Nationen beruhte, und empfahl dem Kaiser sogar, den Eid auf die Verfassung zu brechen, denn es sei unmoralisch, eine schlechte Verfassung aufrechtzuerhalten.
Im Herbst 1917 wurde Seipel als Nachfolger Schindlers auf dessen Lehrstuhl an die Katholich-Theologische Fakultät der Universität Wien berufen und kam dadurch auch in engere Beziehungen zu den politischen Kreisen der Reichshauptstadt, insbesondere auch zur Christlichsozialen Partei. Im Sommer 1918 war er sogar als Nachfolger von Johannes Baptist Kardinal Katschthaler (AIn EM) für den Salzburger Erzbischof kurz im Gespräch.
SEIPELS EINSTIEG IN DIE POLITIK UND SEINE ROLLE 1918 BIS 1921
Als am 22. Oktober 1918 Heinrich Lammasch zum letzten k. k. österreichischen Ministerpräsidenten ernannt wurde, trat Seipel in dessen Kabinett als Minister für soziale Fürsorge ein. Dieses Ministerium wurde Ende 1917 von Kaiser Karl errichtet und bündelte entsprechende Zuständigkeiten, die bislang beim Innen- und Handelsministerium lagen. Seipel war der erste Priester, der zu einem Minister auf Reichs(Bundes-)ebene ernannt wurde.
Die Hauptaufgabe der Regierung Lammasch bestand in der Organisation des Übergangs der alten Habsburger-Monarchie in den neuen Rest-Staat Deutschösterreich mit republikanischer Verfassung. Seipel kam vor allem bei der Abdankung Kaiser Karls am 11. November 1918 eine wichtige Rolle zu. Er änderte den Text so ab, daß das Wort „Abdankung“ nicht vorkam. Die entscheidende Passage lautete dann: „Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften.“
In der Entlassungsurkunde des Kaisers wurde Seipel zum Geheimen Rat (mit dem Prädikat „Exzellenz“) ernannt und erhielt eine Jahrespension von 20.000 Kronen, die in den folgenden Jahren der Inflation und der Währungsumstellung angepaßt wurde, so daß er für den Rest seines Lebens ein gesichertes Einkommen besaß, von dem er allerdings einen Großteil spendete.
In den Umbruchstagen Ende 1918/Anfang 1919 wurde Seipel immer stärker zu einer Führungsfigur innerhalb der Christlichsozialen Partei, so daß seine Kandidatur für die Konstituierende Nationalversammlung (KNV) eine logische Konsequenz war. Ihr gehörte er ab 4. März 1919 bis zum 9. November 1920 an, danach war er bis zu seinem Tod Nationalratsabgeordneter. In der KNV war er an der Ausarbeitung der neuen Bundes-Verfassung führend tätig. Am 2. August 1919 wurde er – verhältnismäßig noch in relativ jungen Jahren (43 Jahre) – zum Päpstlichen Hausprälaten ernannt. Die Ernennung zum infulierten Apostolischen Protonotar erfolgte bald danach am 28. November 1921.
Seipel stand in dieser Umbruchszeit auch sehr kritisch einem Anschluß an Deutschland gegenüber. Er war aber auch ein Gegner einer Neutralität Österreichs. Durch sein geschicktes Verhalten in der Transformationsphase 1918/19 gelangte er bald zu Einfluß und innerparteilicher Macht, so daß die Übernahme des Parteivorsitzes im Jahr 1921 und der Kanzlerschaft im Jahr 1922 nur die logische Konsequenz war.
Die Christlichsoziale Partei war nach dem Rücktritt von Aloys Prinz von und zu Liechtenstein (AW EM) als Parteivorsitzenden im November 1918 in keinem besonders guten Zustand. Seine Funktion übernahm für rund zwei Jahre der oberösterreichische Landeshauptmann Prälat Johann Hauser (AW EM). Ihm folgte 1920/21 für kurze Zeit Leopold Kunschak (Nc EM). Am 7. Juni 1921 wurde Seipel zum Obmann gewählt, welches Amt er dann bis zum 9. Mai 1930 behielt.
SEIPELS ERSTE KANZLERSCHAFT 1922 BIS 1924
Am 31. Mai 1922 wurde Seipel als Nachfolger von Johann Schober zum Bundeskanzler bestellt. Seine erste Kanzler-Periode dauerte bis zum 20. November 1924. In den Kabinetten Seipel I bis III waren u. a. Richard Schmitz (Nc), Emil Schneider (Le), August Graf Ségur-Cabanac (Rd EM) und Carl Vaugoin (Rd EM) Bundesminister.
Einer der wichtigsten politischen Gefolgsleute Seipels war Friedrich Funder (Cl) als Chefredakteur bzw. Herausgeber der „Reichspost“, des inoffiziellen Organs der Christlichsozialen. Obwohl zuerst skeptisch gegenüber der Kanzlerschaft („Exzellenz, das ist ein Unglück!“), wurde er bald zum Bewunderer seiner Person und mit ihm wohl auch die katholischen Kernschichten, darunter der CV.
Seipels erste Kanzlerperiode war stark von der Sanierung der Währung (Völkerbundanleihe), d. h. die Beendigung der Inflation und die nachfolgende Einführung des Schillings, geprägt. In dieser Zeit fallen auch seine Worte von der „Sanierung der Seelen“.
In diesem Zusammenhang ist auch die 1923 unter Seipel erfolgte Einführung des Österreichischen Verdienstordens zu sehen, dessen Symbol das sog. Kruckenkreuz war. Es ist in der Zeit der Kreuzzüge entstanden und als sog. Jerusalem-Kreuz bekanntgeworden. Auch wurden die Zwei- und Fünf-Groschenstücke der damals eingeführten Schillingwährung mit diesem Kreuz versehen. Seipel wollte sicherlich auf das Kreuzes-Symbol im Zusammenhang mit seiner erwähnten „Sanierung der Seelen“ zurückgreifen. Das Kruckenkreuz ist dann später vom „Ständestaat“ bzw. der Vaterländischen Front bewußt als „Gegensymbol“ zum Hakenkreuz hochstilisiert worden.
Obwohl sich im Herbst 1923 bei den Nationalratswahlen die Christlichsozialen gegenüber 1920 verbessern konnten, war die innenpolitische Situation für Seipel nicht leicht. Da die Währungssanierung negative Folgen für die Binnen-Kaufkraft hatte und zu einem Ansteigen der Arbeitslosigkeit führte, geriet er in die Kritik vor allem seitens der Sozialdemokratie, die gegen ihn eine Hetzkampagne startete.
Ein Beispiel für den Stil der damaligen politischen Auseinandersetzung folgendes, nach der Melodie „Was kommt dort von der Höh’“ zu singende Spottlied auf Ignaz Seipel, das von den Sozialdemokraten nach der für sie enttäuschenden Nationalratswahl des Jahres 1923 in Umlauf gebracht wurde:
„Und an die Gaslatern,
und an die Gaslatern,
da hängen wir die hohen Herrn.
ja, ja die hohen Herrn,
an eine Gaslatern!
Wer wird der erste sein?
Wer wird der erste sein?
Das wird der Herr von Seipel sein,
ja, ja der Seipel sein,
das wird Herr Seipel sein!“
Dieser ständigen verbalen Hetze auf Seipel erlag offenbar der bereits mehrfach vorbestrafte Arbeiter Karl Jawurek und unternahm auf ihn am 1. Juni 1924 am Wiener Südbahnhof ein Pistolenattentat, bei dem Seipel verletzt wurde. Mit dieser Hetze war auch seitens der Sozialdemokratie eine Kirchenaustrittsbewegung verbunden. Das Attentat löste jedoch im katholischen Milieu und vor allem im CV besondere Solidarität hervor.
Im Herbst 1924 überlegte die bayerische Fremdenpolizei, den nach dem Putschversuch vom November 1923 in der Festung Landsberg einsitzenden Adolf Hitler nach Österreich abzuschieben. Bayerische Innenminister im Jahr 1924 waren übrigens Franz X. Schweyer (Ae) (bis Ende Juni) und dann Karl Stützel (Ae), die beide einen strikt antinationalistischen Kurs fuhren. Die Regierung Seipel wollte aber Hitler nicht in Österreich haben und stellte sich auf dem Standpunkt, daß err durch seinen Dienst in der bayerischen Armee kein Österreicher mehr sei.
Aber auch innerhalb der Christlichsozialen Partei, vor allem bei den führenden Personen in den Landesregierungen, war Seipel nicht mehr unumstritten. Diese waren gegen ein von der Bundesregierung beabsichtigtes Vorsanktionsrecht der Landesbudgets. Meinungsbildend hierbei war vor allem der steirische Finanz-Landesrat Jakob Ahrer (ehemals Trn), der dann bei der nächsten Bundesregierung Finanzminister wurde.
Zusammen mit den vorhin genannten Gründen führte das schließlich dazu, daß Seipel am 7. November 1924 als Bundeskanzler zurücktrat und den Salzburger christlichsozialen Landesparteivorsitzenden Rudolf Ramek (Nc) als Nachfolger forcierte. Es folgte nun ein „Interregnum“ von rund zwei Jahren, vor dessen Ende er neuerlich als Bischof, diesmal für Graz-Seckau, im Gespräch war.
SEIPELS ZWEITE KANZLERSCHAFT 1926 BIS 1929
Nachdem die Regierung Ramek durch Skandale in Schwierigkeiten geraten war, übernahm Seipel am 20. Oktober 1926 wiederum die Kanzlerschaft, die er bis 4. Mai 1929 ausübte. Den Kabinetten Seipel III und IV gehörten u. a. Josef Kollmann (Am EM), Josef Resch (Nc EM), Richard Schmitz (Nc) und Carl Vaugoin (Rd EM) als Bundesminister an. Vor allem Schmitz war Seipels engster Vertrauensmann in seinen Regierungen.
Bei den Nationalratswahlen im April 1927 verlor eine Einheitsliste aus Christlichsozialen und Großdeutschen gegenüber 1923, konnte aber zusammen die absolute Mehrheit behaupten. Seipels zweite Regierungsperiode war jedoch vom Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 überschattet, die die innenpolitische Lage Österreichs radikalisierte und die paramilitärischen Verbände (Heimwehren, Schutzbund) stärkte.
In der folgenden parlamentarischen Auseinandersetzung wurde Seipel als „Prälat ohne Milde“ tituliert, womit die Problematik der Priesterpolitiker angesprochen wurde. Um aus der prekären innenpolitischen Lage herauszukommen, versuchte die Regierung Seipel eine Verfassungsreform in die Wege zu leiten, die aber erst Anfang Dezember 1929 – nach seinem Rücktritt – beschlossen werden konnte.
Seipel kündigte Anfang April 1929 überraschend an, als Bundeskanzler demissionieren zu wollen. Die Gründe hiefür waren vielschichtig. Zum einen war es die Einsicht, daß er eigentlich seine politischen Vorhaben innen-, außen- wie wirtschaftspolitischer Natur nicht umsetzen konnte, zum anderen spürte er, daß er als Priester in der Politik sowohl für die Kirche als auch für die Partei zur Belastung wurde. In seiner Person wurde besonders die Verflechtung zwischen Christlichsozialer Partei und Kirche sichtbar. Am 4. Mai 1929 trat er dann zurück. Fast ein Jahr später legte er – nicht zuletzt aus Gesundheitsgründen – auch den Parteivorsitz nieder.
Am 30. September 1930 trat Seipel als Außenminister in die Minderheitsregierung des christlichsozialen Parteivorsitzenden Carl Vaugoin (Rd EM) ein, die nur knapp mehr als zwei Monate bis 4. Dezember 1930 amtierte. Die von ihr angesetzten Nationalratswahlen im November 1930 endeten mit einem Fiasko für die Christlichsozialen, was letztlich zu den Ereignissen der Jahre 1933/34 führte.
Nach dem Scheitern der Regierung Otto Ender (AIn), u. a. aufgrund des Zusammenbruchs der Creditanstalt-Bankverein, beauftragte Bundespräsiden Wilhelm Miklas (AW EM) aufgrund der Verfassungsreform 1929 Seipel am 19. Juni 1931 mit der Regierungsbildung. Er unterbreitete den Sozialdemokraten das Angebot, in eine Konzentrationsregierung einzutreten, um die eminenten politischen und vor allem wirtschaftlichen Schwierigkeiten gemeinsam zu lösen. Doch dieses Angebot wurde von diesen abgelehnt, denn offenbar erkannten die Sozialdemokraten, daß das Mittragen unpopulärer Maßnahmen zu Lasten ihrer Wählerklientel ging, die zu verlieren sie fürchtete. Im nachhinein wurde diese Ablehnung der Sozialdemokraten in einen schuldhaften kausalen Zusammenhang mit dem Scheitern der Ersten Republik gebracht.
Mit der Ablösung Seipels als Bundeskanzler (1929) und als Parteiobmann (1930) betrat eine neue Generation die politische Bühne, die ihre entscheidenden Erlebnisse in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges erfahren hatte und daher auch „Frontgeneration“ genannt wurde. Es wundert daher nicht, daß der Nachfolger Seipels als Parteiobmann der ehemals aktive Offizier und langjährige Heeresminister Carl Vaugoin (Rd EM) wurde. Mit dieser Frontgeneration, es seien nur die Namen Engelbert Dollfuß (F-B) und Kurt von Schuschnigg (AIn) genannt, wurden auch jene antiparlamentarischen Tendenzen immer stärker, die dann zur Errichtung des „Ständestaates“ führten.
SEIPEL UND DER CV
Die Beziehungen Seipels zum CV begannen bald nach seinem Einstieg in die Politik. Bereits im Januar 1920 beschloß die Norica die Ehrenmitgliedschaft, verliehen wurde sie dann am 4. März. Weitere neun Verbindungen folgten diesem Beispiel im Laufe der Zeit. Die meisten Bänder erhielt er in seiner ersten Kanzlerschaft. Eine besondere Beziehung besaß er zur Bajuvaria auf Grund des dritten Wiener Gemeindebezirks Landstraße, wo Seipel wohnte und die Bajuvaria entstand bzw. ihre Bude hatte. „Bei Bajuvaria bin ich ja Pate gestanden“, so ein häufiger Spruch von ihm. Ihm war auch bewußt, daß der CV für die Elitebildung des Politischen Katholizismus von großer Bedeutung war. So äußerte sich Seipel Ende 1924 bei einer Feier zum 50. Geburtstag von Richard Wollek (AIn):
„Daß jenen, die Verantwortung trugen, die Möglichkeit gegeben war, hier in Österreich Vereinigungen zu wissen, in denen man im Bedarfsfalle die Männer der vaterländischen und religiösen Überzeugung finden kann, daß wir von der Partei her unseren Blick gerade auf den CV lenken konnten, dazu hat keiner mehr beigetragen als unser Freund Wollek […], und wir mußten uns sagen, ein CV, der einen solchen Vertreter und Anwalt in der Politik hat, muß wahrlich jene Vereinigung sein, in der man darauf rechnen kann, daß sie nicht sich selbst, sondern das allgemeine Wohl suchen.“
Aus dem Jahr 1930 – und zwar aus Graz – stammt zur Melodie des „Gaudeamus igitur“ folgende Strophe:
„Vivat cancellarius,
qui professor erat.
Regit nos rem publicam,
sanat nostram patriam,
vivat doctor Seipel!“
Seipel war außerdem auch Ehrenmitglied der (späteren) MKV-Verbindung Asciburgia Oberschützen (1930) und von drei österreichischen KV-Verbindungen (Deutschmeister Wien 1927 sowie Winfridia und Austria Graz 1930).
WÜRDIGUNG
Seipel zog sich – immer mehr von seiner Krankheit (Diabetes) gezeichnet – zurück. 1931 erhielt er noch die Ehrendoktorwürde der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. In den Morgenstunden des 2. August 1932 ist er verstorben. Am selben Tag, fast zur selben Stunde, verstarb auch Seipels Freund und Weggefährte, der Prager Weihbischof Wenzel Anton Frind (Fd EM), zwei Wochen später Seipels Rivale innerhalb der bürgerlichen Koalition, Johann Schober.
Bekannt geblieben sind die respektvollen Worte seines innenpolitischen Gegners, des eigentlichen Führers der Sozialdemokratie, Otto Bauer: „Der Soldat verweigert dem gefallenen Feind die letzten militärischen Ehren nicht. So schicken wir dem großen Gegner drei Salven über die Bahre!“
Das Begräbnis fand am 5. August statt und gestaltete sich zu einem Großereignis ähnlich wie das bei Karl Lueger (Nc EM) oder dann bei Leopold Figl (Nc). Aufgebahrt wurde Seipel ab dem 4. August im Militärcasino am Schwarzenbergplatz. Dort hielten Chargierte seiner Verbindungen die Totenwache, und dort begannen am 5. August die Exequien mit der ersten Einsegnung durch den amtierenden Kapitelvikar Weihbischof Franz Kamprath (F-B EM) und einer kurzen Ansprache des Obmanns der Christlichsozialen Partei, Carl Vaugoin (Rd EM). Von dort zog ein Trauerkondukt zum Stephansdom, wo das Requiem der Apostolische Nuntius, Erzbischof Enrico Sibilia. Gesungen wurde dabei das Requiem von Vinzenz Goller (Wl). Nach dem Requiem begab sich der Trauerzug zum Parlament, wo vor dem Gebäude eine Verabschiedung stattfand, wo u. a. Bundespräsident Wilhelm Miklas (AW EM), Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (F-B), der Zweite Präsident des Nationalrats, Rudolf Ramek (Nc), und der Landeshauptmann von Niederösterreich, Karl Buresch (Wl EM), sprachen.
Danach bewegte sich der Trauerzug über den Ring und die Landstraßer Hauptstraße, vorbei am Herz-Jesu-Kloster, wo Seipel gewohnt hatte, zum Zentralfriedhof, wo Seipel vorerst in einem Ehrengrab der Stadt Wien beigesetzt wurde. Dort fand die Einsegnung durch Weihbischof Kamprath statt, danach sprach am offenen Grab Robert Krasser (Nc) in seiner Eigenschaft als Obmann der Wiener Christlichsozialen Partei. Nach ihm ergriff Theodor Kardinal Innitzer (NdW), der Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Wien das Wort. Ober er bereits geahnt oder sogar gewußt hatte, daß er sechseinhalb Wochen später zum Erbischof von Wien ernannt werden würde? Nach weiteren Reden warfen Seipels Verbindungen Norica, Welfia, Austria Innsbruck, Carolina, Alpenland, Rudolfina, Bajuvaria und Babenberg Wien Band und Mütze in das offene Grab.
Der Wiener CV hielt am 23. November einen Trauerkommers zu Ehren Seipels im Sofiensaal ab. Anwesend waren Bundeskanzler Dollfuß sowie zahlreiche weitere politische Prominenz wie Karl Buresch und Carl Vaugoin und die amtierenden bzw. ehemaligen Minister Anton Rintelen (Trn EM), Kurt von Schuschnigg (AIn), Richard Schmitz (Nc), Emmerich Czermak (NdW), Eduard Heinl (Baj EM), Franz Pauer (Nc). Die Rede hielt der stellvertretende Altherrenbundvorsitzende des CV, Robert Krasser (Nc).
Für Seipel wurde als Begräbnisstätte die von Clemens Holzmeister (Nc) geplante Christkönigskirche im 15. Wiener Gemeindebezirk vorgesehen. Sie befindet sich übrigens nur sechs Häuserblöcke von seinem Geburtshaus entfernt. Sein Sarg wurde zuerst auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. Am 28. September 1934 wurde er exhumiert und in den Wiener Stephansdom gebracht. Nach Exequien wurde er am nächsten Tag in die Krypta dieser Kirche überführt und gemeinsam mit dem kurz vorher ermordeten Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (F-B) beigesetzt. Die Kirche wurde demnach „Seipel-Dollfuß-Gedächtniskirche“ genannt. Nach dem Anschluß wurde 1939 Seipels Sarg in ein Ehrengrab des Wiener Zentralfriedhofs verlegt.
1934 wurde der Abschnitt des Wiener Ringes vor dem Parlament in Dr. Ignaz-Seipel-Ring umbenannt (er hieß bis dahin Ring des 12. November). 1940 wurde er in Josef-Bürckel-Ring umbenannt. 1945 hieß er wieder Seipel-Ring, ab 1956 erhielt er den heutigen Namen Dr.-Karl-Renner-Ring. Bereits 1949 wurde im 1. Bezirk der Platz vor der Jesuitenkirche bzw. der Alten Universität in Dr.-Ignaz-Seipel-Platz umbenannt. 1950 wurde im Arkadenhof der Wiener Universität eine Seipel-Büste aufgestellt
In Seipel, dem Stefan Zweig eine „fast unheimliche Intelligenz“ attestierte, prallen wie kaum bei einem anderen Politiker die gegensätzlichen Standpunkte und Meinungen aufeinander, Dollfuß ausgenommen. Seipel war wohl der bedeutendste österreichische Staatsmann in den ersten zwölf Jahren der republikanischen Ära der Ersten Republik.
Werke:
(Auswahl)Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter (1907).
Nation und Staat (1916).
Gedanken zur österreichischen Verfassungsreform (1917).
Der Kampf um die österreichische Verfassung (1930).
Quellen und Literatur:
Diözesanarchiv Wien. Priesterdatenbank.Academia 33 (1920/21), S. 48, 37 (1924/25), S. 37 und 116, und 45 (1932/33), S. 252-254.
Reichspost 3. 8. 1932, S. 1–10.
Blüml, Rudolf (Hg.): Ignaz Seipel. Mensch, Christ, Priester in seinem Tagebuch. Wien 1933.
Blüml, Rudolf: Prälat Dr. Ignaz Seipel. Ein großes Leben in kleinen Bildern. Klagenfurt 1933.
Auer, Johann: Seipels Verhältnis zu Demokratie und autoritärer Staatsführung. Wien phil. Diss. 1963.
Klemperer, Klemens: Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit. Graz 1976.
Rennhofer, Friedrich: Ignaz Seipel. Mensch u. Staatsmann. Eine biographische Dokumentation. Wien 1978.
Academia 33 (1920/21), S. 48.
Daniel, Ursula: Ignaz Seipel im Spiegel der österreichischen Presse. Graz phil. Diss. 1979.
Reichhold, Ludwig: Ignaz Seipel. Die Bewahrung der österreichischen Identität. Wien 1988.
Biographisches Lexikon des KV. 3. Teil. Hg. von Siegfried Koß und Wolfgang Löhr (= Revocatio Historiae Band 4). Schernfeld 1994, S. 102–106.
Hartmann, Gerhard (Baj): Für Gott und Vaterland. Geschichte und Wirken des CV in Österreich. Kevelaer 2006, S. 202f., 215, 218, 222, 239, 265–269, 273, 278, 319, 379f., 389f., 406, 452.