Lebenslauf:
HERKUNFT, KRIEG UND AUSBILDUNG
Dollfuß wurde als uneheliches Kind des Arbeiters Josef Wenninger geboren. Die unverheiratete Mutter – sie trug bei dessen Geburt den Namen Dollfuß – entstammte einer bäuerlichen Familie. Es wurde ihr untersagt, den Kindsvater zu ehelichen, so daß Dollfuß dann beim späteren Ehemann seiner Mutter, dem Bauern Leopold Schmutz, im nahegelegenen Kirnberg aufwuchs. Nach Absolvierung von sechs Jahren der dortigen Volksschule trat er 1904 über Vermittlung des Pfarrers und mit Unterstützung des Wiener Weihbischofs Johann Schneider in das eb. Knabenseminar in Hollabrunn ein, wo er auch das Gymnasium besuchte. Er wollte ursprünglich Priester werden. Normalerweise hätte er das Knabenseminar der Diözese St. Pölten, in der sein Heimatort liegt, in Seitenstetten besuchen müssen. Als er die erste Klasse wiederholen mußte, hat er das Knabenseminar verlassen und privat gewohnt. Ab der zweiten Klasse war er wieder im Knabenseminar.
Nach der Matura im Jahr 1913 trat Dollfuß in das Wiener Priesterseminar ein und begann mit dem Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Wien, wo er der Franco-Bavaria beitrat (Couleurname Laurin). Im Wintersemester 1919/20 war er deren Senior. Sein Leibbursch war Alfred Unger (F-B). Als dieser zeitweise nicht der Franco-Bavaria angehörte, war dessen Leibbursch Otto Kemptner (F-B) sog. Ehrenleibbursch („Biergroßvater“) von Dollfuß. Einer seiner Leibfüchse war der spätere Landwirtschaftsminister Ludwig Strobl (F-B). Im Januar 1914 verließ er das Priesterseminar und wechselte an die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien (Dr. iur. 1923). Während seines Studiums kam er auch in Kontakt mit der sozialstudentischen Bewegung.
Zu Kriegsbeginn meldete sich Dollfuß am 9. September 1914 freiwillig zum Tiroler Landesschützenregiment Nr. II in Bozen (gehörte zur k. k. Landwehr, wurde auch Kaiserschützenregiment genannt). Man wollte ihn wegen seiner Kleinheit zuerst nicht nehmen, jedoch bei der zweiten Assentierung wurde seinem Wunsch entsprochen. Sein relativ kleiner Wuchs war später für den politischen Gegner Anlaß für Verspottung („Millimetternich“). Sein Regimentskamerad war dort Ernst Karl Winter (NbW).
Nach der Reserveoffiziersausbildung bis Mai 1915 wurde seine Einheit sofort an die Tiroler Front verlegt. Dollfuß wurde Kommandant einer MG-Abteilung zuerst im Abschnitt Innichen-Sexten (Hochpustertal), dann an der südlichen Isonzofront in der Nähe der Adria und schließlich an der Südtiroler Gebirgsfront in der Nähe des Schrimlerjochs, wo nach ihm auch eine Dollfuß-Scharte benannt wurde. In der Oktober-Nummer 1915 der „Academia“ ist ein Feldpostbrief von ihm abgedruckt, als er sich an der südlichen Isonzo-Front befand. Bezeichnend sind hier seine Worte, die aber die damalige Stimmung wiedergeben: „Es ist eben Krieg, Krieg gegen den größten Schuft der Weltgeschichte.“
Mit 1. Januar 1916 wurde Dollfuß zum Leutnant und mit 1. Februar 1918 zum Oberleutnant der Reserve befördert. Er wurde als Subalternoffizier relativ hoch dekoriert: Militärverdienstkreuz mit Kriegsdekoration und Schwertern, Silbernes Signum laudis, Signum laudis am Band mit Schwertern, Silberne Tapferkeitsmedaille II. Klasse, Karl-Truppenkreuz, Verwundetenmedaille.
Nach dem Krieg setzte Dollfuß sein Studium fort und engagierte sich auch im Katholisch-Deutschen Hochschulausschuß (KDHA). Nebenher mußte er sich als Werkstudent seinen Lebensunterhalt finanzieren. Im August 1920 war er der aktive Vertreter der Franco-Bavaria auf der 51. Cartellversammlung in Regensburg. Der Altherrenvertreter der Franco-Bavaria war P. Nivard Schlögl (Nc, F-B). Zwei Begebenheiten dort gingen in die Historiographie ein.
Zum einen war es das „Gesangsduell“ mit dem Vertreter der Nibelungia Wien, Ernst Karl Winter (NbW). Dieser sang beim Kommers zur Melodie der Haydn-Hymne das „Gott erhalte“, während Dollfuß dazu den Text des „Deutschlandliedes“ intonierte. Zum anderen forcierte Dollfuß auf dieser Cartellversammlung einen „Arierparagraphen“ für den CV („deutscharische Abstammung bis zu den Großeltern“). Dieser wurde dort zwar beschlossen, mußte aber im Herbst nachträglich einer schriftlichen Abstimmung unterworfen werden, bei der dann Franco-Bavaria dagegen stimmte und die dann scheiterte, so daß es keinen „Arierparagraphen“ im CV gab.
Beide Vorkommnisse standen im Kontext zum zeitbedingten Umfeld. In Österreich gab es zum einen in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg eine starke demokratische Anschlußstimmung an das Deutsche Reich, die auch den CV erfaßt hatte. Zum anderen war die „arische Frage“ an der Universität Wien wegen der relativen Dominanz jüdischer Studenten virulent, der sich der CV aus hochschulpolitischen Gründen nicht entziehen konnte.
Ab Ende 1920 studierte Dollfuß mittels eines Stipendiums des niederösterreichischen Bauerbundes in Berlin, wo er Vorlesungen in Staatswissenschaften, Nationalökonomie und über das Genossenschaftswesen hörte. Dort wurde er bei der CV-Verbindung Germania verkehrsaktiv und soll dort nach Aussage das Amt eines Fuchsmajors bekleidet haben. Diese wurde 1895 an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin gegründet und trat 1920 dem CV bei. Sie ging 1950 in der Berliner CV-Verbindung Borussia-Saxonia auf.
Nebenbei arbeitete Dollfuß auch in der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse, wo er seine spätere Frau Alwine kennenlernte. Diese entstammte einer großbäuerlichen Familie in Pommern und konvertierte später zum katholischen Glauben. Am 7. Juli 1921 beendete er seinen Studienaufenthalt in Berlin, kehrte nach Wien zurück und absolvierte Mitte 1923 das Studium.
In dieser Zeit gehörte Dollfuß auch der „Deutschen Gemeinschaft“ an, einem logenartig organisierten Verband, der bald nach dem Krieg gegründet wurde und katholische wie nationale Intellektuelle umfaßte. Er wurde zum Teil Ausgangspunkt der Katholisch-Nationalen und existierte bis 1930, wobei dort schon bald die katholische Seite zu dominieren begann. Mitglieder von CV-Seite waren neben Dollfuß u. a. Josef Bick (Fd), Emmerich Czermak (NdW), Arbogast Josef Fleisch (Nc), Viktor Kolassa (NdW), Nivard Schlögl (Nc), Gustav Steinbauer (F-B), Richard Wollek (AIn) aber auch Arthur Seyß-Inquart.
DOLLFUSS ALS BÄUERLICHER INTERESSENSVERTRETER UND MINISTER
Bereits nach seiner Rückkehr aus Berlin nahm Dollfuß den Posten eines Sekretärs des niederösterreichischen Bauernbundes an. Am 1. Juli 1922 wechselte er dann als Sekretär in die neugegründete niederösterreichische Landwirtschaftskammer über, deren Kammeramtsdirektor er bereits im Juli 1927 wurde.
Dollfuß war zu dieser Zeit bereits ein in Österreich anerkannter Agrarexperte, auch auf sozialdemokratischer Seite, und gehörte bald zu den wichtigsten Persönlichkeiten der bäuerlichen Interessensvertretung. Als solcher zählte er zum demokratischen Flügel der Christlichsozialen Partei. Im August 1930 wurde er zum Vizepräsidenten der Österreichischen Bundesbahnen und mit 1. Oktober 1930 zu deren Präsidenten bestellt. Hier half er mit, diesen Staatsbetrieb zu reformieren. Diese Position bekleidete er bis zum Eintritt in die Bundesregierung.
Obwohl fachlich kompetent, war die Berufung von Dollfuß durch Bundeskanzler Otto Ender (AIn) zum Landwirtschaftsminister am 18. März 1931 eher eine Verlegenheit. Er sollte dann Österreich in den kommenden drei Jahren entscheidend prägen. Dieses Amt bekleidete er dann auch unter Bundeskanzler Karl Buresch (Wl EM) bis zum 20. Mai 1932. Mit der Ablösung Ignaz Seipels (Nc EM) als Bundeskanzler (1929) und als Parteiobmann (1930) betrat eine neue Generation die politische Bühne, die ihre entscheidenden Erlebnisse in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges erfahren hatte und daher auch „Frontgeneration“ genannt wurde. Zu dieser zählte auch Dollfuß.
DOLLFUSS UND DIE ERRICHTUNG DES „STÄNDESTAATES“
Als die Koalition mit den Großdeutschen scheiterte, bildete Dollfuß als Bundeskanzler am 20. Mai 1932 eine Koalitionsregierung aus dem Landbund und den Heimwehren, die im Nationalrat nur eine Stimme Mehrheit besaß. In den Kabinetten Dollfuß I und II waren folgende CVer Minister bzw. Staatssekretäre: Karl Buresch (Wl EM), Otto Ender (AIn), Emil Fey (ehemals Rd EM), Heinrich Gleißner (S-B), Josef Resch (Nc EM), Anton Rintelen (ehemals Trn), Richard Schmitz (Nc), Alois Fürst Schönburg-Hartenstein (Dan EM), Kurt Schuschnigg (AIn), Friedrich Stockinger (ehemals F-B) und Carl Vaugoin (Rd EM).
Aufgrund der Erfolge der NSDAP bei den Landtagswahlen Ende April 1932 spitzte sich die innenpolitische Lage Österreichs zu. Aus Anlaß eines Eisenbahnerstreiks kam es bei einer Nationalratssitzung am 4. März 1933 zu Unstimmigkeiten bei einer Abstimmung, so daß in der Folge alle drei Nationalratspräsidenten – darunter der frühere Bundeskanzler Rudolf Ramek (Nc) als Zweiter Präsident des Nationalrats – in einer Kurzschlußreaktion zurücktraten. In der Folge beschlossen die Christlichsozialen, vorerst eine Zeitlang ohne Parlament zu regieren und eine Verfassungsreform in Gang zu setzen.
Nach Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl, die bereits Ende der zwanziger Jahre begonnen hatten, konnte am 5. Juni 1933 ein Konkordat unterzeichnet werden. Dafür reiste Dollfuß nach Rom. Er erhielt daraufhin den zweithöchsten und einstufigen päpstlichen Orden vom Goldenen Sporn, der an einer goldenen Collane zu tragen ist. Ratifiziert und in Kraft getreten ist dieses Konkordat dann am 1. Mai 1934.
Infolge der außenpolitischen Situation (Machtübernahme Hitlers, Druck seitens Mussolini) radikalisierte sich die innenpolitische Lage Österreichs weiter. Dollfuß propagierte am 9. September 1933 auf dem Allgemeinen Deutschen Katholikentag in Wien: „Ja, wir wollen einen christlich-deutschen Staat in unserer Heimat errichten!“ Diese Rede ist streng von seiner am 11. September auf dem Wiener Trabrennplatz zu trennen, wo Dollfuß folgenden Ausspruch tat: „Die Zeit marxistischer Volksführung und Volksverführung ist vorüber! Die Zeit der Parteienherrschaft ist vorüber, wir lehnen Gleichschalterei und Terror ab, wir wollen den sozialen, christlichen deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage unter starker, autoritärer Führung dieses Staates.“ Diese Rede wurde im Rahmen einer Veranstaltung der Vaterländischen Front (VF) gehalten, die nicht auf dem Programm des Katholikentages stand! Trotzdem ist die zeitliche Nähe von Bedeutung, weil Dollfuß offenbar das „Medienereignis“ Katholikentag strategisch mit einbeziehen wollte.
Die Nationalsozialisten erhöhten seit dem späten Frühjahr 1933 den Druck. Das führte im Juni einerseits zum Verbot der NSDAP in Österreich, andererseits zur sog. 1000-Mark-Sperre, mit der Hitler den österreichischen Fremdenverkehr treffen wollte. Gleichzeitig überzogen illegale Nationalsozialisten Österreich mit einer Serie von Sprengstoffattentaten. In dieser aufgeheizten Atmosphäre verübte am frühen Nachtmittag des 3. Oktober 1933 im Parlament ein junger arbeitsloser Nationalsozialist auf Dollfuß ein Attentat.
Dollfuß und die österreichische Bundesregierung sah sich zunehmend einem Zweifrontenkampf gegenüber. Auf der einen Seite gegen die Sozialdemokratie, die aber in der Folge immer mehr zu resignieren schien, und auf der anderen Seite gegen den Nationalsozialismus, der für Österreich immer gefährlicher wurde. In dieser Situation lehnte sich Dollfuß außenpolitisch stark an das faschistische Italien unter Benito Mussolini an, der damals noch ein Interesse an einem unabhängigen Österreich hatte. Dieser übte auf Dollfuß Druck aus, die Sozialdemokratie zu bekämpfen und faschistische bzw. autoritäre Elemente in die geplante Verfassung aufzunehmen. Nach der sog. Selbstausschaltung des Nationalrates im März 1933 begann bereits im Rahmen einer Art eines „schleichenden Staatsstreichs“ eine „semidiktatorische Phase“.
In diesem Sinn lag es auch im Interesse von Dollfuß, die Christlichsoziale Partei in den Griff zu bekommen. Die Person, die dem entgegenstand, war deren Obmann Carl Vaugoin (Rd EM). Am 1. November 1933 wurde er als Obmann der Christlichsozialen Partei abgelöst, geschäftsführender Obmann („Liquidator“) wurde Emmerich Czermak (NdW). Bereits im Frühjahr 1933 wurde als Sammelbewegung die Vaterländische Front (VF) gegründet, deren Bundesführer Dollfuß wurde.
Dollfuß erhöhte zwar den Druck auf die Sozialdemokratie. Zum anderen kam es aber Anfang 1934 zu Versuchen zwischen der Regierung und der Sozialdemokratie, doch noch ins Gespräch zu kommen. Hintertrieben wurde aber diese Konsensbereitschaft von radikalen Kräften auf beiden Seiten.
Am 12. Februar 1934 explodierte dann das „innenpolitische Pulverfaß“. Bei einer Waffensuche im Linzer Arbeiterheim leisteten Schutzbündler unter Richard Bernaschek Widerstand. Dieser weitete sich zu einem partiellen Schutzbundaufstand aus, der dann von der Exekutive (Bundesheer, Polizei) mit Hilfe der Wehrverbände niedergeschlagen wurde. Nun konnte Dollfuß ungehindert sein Verfassungswerk durchziehen und mit 1. Mai 1934 den „Ständestaat“ mit der Vaterländischen Front als quasi Einheitspartei errichten.
DER JULI-PUTSCH 1934
Wie bereits erwähnt überzogen illegale Nationalsozialisten ab Mai/Juni 1933 Österreich mit politischem Terror und verübten zahlreiche Sprengstoffanschläge. Deren Ziele waren u. a. Eisenbahngeleise und Energieversorgungseinrichtungen. Aber auch Häuser von exponierten Persönlichkeiten kamen ins Visier, wie u. a. das des Landeshauptmanns von Niederösterreich, Josef Reither (F-B EM).
Das erste spektakuläre Attentat wurde am 11. Juni 1933 in Innsbruck auf den Heimwehrführer Richard Steidle (AIn) verübt. Innerhalb von 19 Tagen des Juni 1933 wurden aufgrund von Anschlägen der Nazis 48 Personen verletzt und vier getötet. Auch Dollfuß war, wie bereits geschildert, Ziel eines Attentats. Am 23. Juni 1934 wurde der Kapfenberger Kaplan Franz Eibel (KV Winfridia Graz) Opfer eines Bombenanschlages. Die Trauerfeierlichkeiten für den ermordeten Priester gestalteten sich zu einer Demonstration.
Einen Monat später, am 25. Juli 1934, wurde von illegalen Nationalsozialisten (SS-Standarte 89) ein Putsch inszeniert, im Verlaufe dessen das Bundeskanzleramt besetzt und Dollfuß ermordet wurde. Ein Angehöriger der Putschisten war ein zu diesem Zeitpunkt bereits ehemaliger CVer. Dieser Putsch war mit Aufstandsversuchen der illegalen NSDAP begleitet und wurde höchstwahrscheinlich von Hitler persönlich angeordnet. Er blieb nicht nur auf Wien beschränkt, auch in den Bundesländern kam es zu Kämpfen, die teilweise bis zum 5. August dauerten.
Der von den Putschisten als Bundeskanzler vorgesehene frühere Landeshauptmann der Steiermark, Unterrichtsminister und damalige österreichische Gesandte in Rom, Anton Rintelen (ehemals Trn EM), versuchte nach dem Scheitern des Putsches noch am selben Abend vergeblich, sich zu erschießen. Ihm wurde 1935 wegen Hochverrats der Prozeß gemacht (Urteil lebenslänglich). Die Agitation der illegalen Nationalsozialisten nach dem mißglückten Putsch, „Hitlers Niederlage in Österreich“ (Gottfried Karl Kindermann), beruhigte sich nun für einige Zeit.
Der zu Recht als Opfer der österreichischen Selbstbehauptung gegenüber Hitler bezeichnete Engelbert Dollfuß wurde nun in einer Art Mythos hochstilisiert. So hatte der Bundesleiter (i. e. Generalsekretär) der VF, Karl Maria Stepan (Nc), bereits am 2. August 1934 in einem Bundesbefehl angeordnet, daß jede Veranstaltung der VF mit folgenden Worten zu eröffnen ist: „Unser toter Führer Dollfuß läßt Euch grüßen! Österreich!“
DOLLFUSS IM WIDERSTREIT DER HISTORISCHEN ERINNERUNG
Dollfuß ist wohl einer der umstrittensten Politiker Österreichs des 20. Jahrhunderts, der noch immer Gräben zwischen den damals verfeindeten politischen Lagern aufwirft und bis heute rational nicht ganz nachvollziehbare Diskussionen hervorruft. Für die einen ist er ein Opfer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und ein Symbol der Selbstbehauptung Österreichs, für die anderen ist Dollfuß der „Zerstörer“ der Demokratie und ein „Arbeitermörder“.
Am Beginn dieses Widerstreits steht die Kernfrage, ob der „Ständestaat“ „faschistisch“ war bzw. in Anlehnung an den Begriff „Austromarxismus“ als „austrofaschistisch“ bezeichnet werden kann. Vor allem renommierte internationale Historiker (u. a. auch Francis L. Carsten, Karl-Dietrich Bracher, Walter Laqueur, Ian Kershaw) kommen zu dem Urteil, daß es sich beim österreichischen „Ständestaat“ nicht um ein faschistisches System gehandelt hat. Am ehesten trifft die Etikettierung konservativ-bürgerlicher autoritärer Staat zu. Helmut Wohnout (Nc) klassifiziert ihn als „Regierungsdiktatur“ bzw. „Kanzlerdiktatur“.
Neben dieser Frage nach der Qualität des „Ständestaates“ wird immer wieder versucht, die Schuldfrage zu diskutieren, nämlich die Ausschaltung der parlamentarischen Demokratie und der Sozialdemokratie, die Anhaltelager, Todesurteile (u. a. Koloman Wallisch) usw. Aber welchen außen- wie innenpolitischen Spielraum hatte Dollfuß zu dieser Zeit? Auf der einen Seite stand das faschistische Italien, das auf eine Ausschaltung der Sozialdemokratie drängte, auf der anderen Seite Hitler-Deutschland, dessen Ableger in Österreich immer stärker wurden.
Die Wahlergebnisse der Jahre 1932/33 haben auch ohne eine damals existierende Meinungsforschung signalisiert, daß bei den nächsten fälligen Nationalratswahlen, also spätestens im Herbst 1934, die NSDAP so stark werden würde, um die Regierung auch in Österreich auf (halb)legalem Weg zu übernehmen. Der Anschluß wäre dann bereits lange vor 1938 erfolgt. Ob ein bereits 1934 oder kurz danach nationalsozialistisch gewordenes Österreich nach 1945 gegenüber den Alliierten als „erstes Opfer“ Hitlers dastehen hätte können, ist klar zu verneinen.
Die Sozialdemokratie sieht sich bezüglich 1934 gerne als Verteidigerin der Demokratie. Abgesehen davon, daß sowohl das „Hainfelder Programm“ von 1889 als auch das „Linzer Programm“ von 1926 die parlamentarische Demokratie lediglich als Mittel zum Zweck der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung bezeichneten, gibt es keine Äußerungen oder Beweise, daß der Aufstand von Teilen des Schutzbundes vom 12. Februar 1934 darauf abzielte, die verfassungsmäßige Ordnung in vollem Umfang wieder herzustellen. Gesetzt die Annahme, die Aufstandsbewegung hätte Erfolg gehabt, dann hätten weder Deutschland noch Italien zwischen sich auf Dauer ein „linkes“ Regime geduldet.
Aus dieser Beurteilung heraus war die Handlungsweise von Dollfuß verantwortungsethisch nachvollziehbar. Durch die Ausschaltung aller Parteien gelang es ihm bzw. seinem Nachfolger Schuschnigg, Österreich noch einige Jahre zu halten und dadurch zumindest in Ansätzen ein Österreichbewußtsein zu erzeugen, das für die Existenz und die Selbstfindung der Zweiten Republik lebensnotwendig wurde.
Trotzdem wird immer wieder versucht, vor allem von linker Seite, den „Ständestaat“ als faschistisch zu etikettieren, wobei Geschichte nicht selten zur politischen Waffe wird, um den Gegner zu treffen. So gab es anläßlich des Gedenkens an den 12. Februar 1934 im Jahr 2001 die Äußerung: Die „soziale Kälte“ der (damaligen) ÖVP/FPÖ-Regierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel erinnert an „Maßnahmen, die an den Staatsgeist der 30er Jahre gemahnen“.
Dagegen ist positiv die Gedenkveranstaltung vom Februar 2004 im Parlament zu nennen, die unter der Schirmherrschaft des damaligen Nationalratspräsidenten Andreas Khol (R-B) und dem späteren Bundespräsidenten Heinz Fischer stand. Jedoch begannen Ende 2009/Anfang 2010 wiederum Diskussionen, die letztlich dazu führten, daß im Juli 2010 erstmals die jährliche Totengedenkmesse für Dollfuß im Bundeskanzleramt von Bundeskanzler Werner Faymann untersagt wurde. In gewissen Abständen immer wieder von gewisser Seite in Diskussion gebracht wird der Umstand, daß in den Räumlichkeiten des ÖVP-Klubs im Parlament ein Bild von Dollfuß hängt. (Dieses „Problem“ hat sich 2017 durch die umfangreichen Renovierungsarbeiten im Parlament erledigt.)
Viel zu wenig wird in der historischen Wissenschaft und damit zusammenhängend in der veröffentlichten Meinung auf den Charakter des „Ständestaates“ als gewissermaßen institutionalisierten, wenn auch nicht gerade optimal organisierten Widerstand gegen den Nationalsozialismus hingewiesen. Und seitens der österreichischen Zeitgeschichtsforschung wird dazu quasi entschuldigend festgestellt: „Die These des Widerstands des Austrofaschismus gegen den Nationalsozialismus ist für die österreichische Linke emotional schwer zu ertragen.“ (Ernst Hanisch)
Bertolt Brecht hatte hingegen diesbezüglich keine Probleme. In seinem 1941 verfaßten Theaterstück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, in dem er sich kritisch-verfremdet mit Adolf Hitler auseinandersetzt, wird dessen Antipode Dollfuß – in dem Stück Dullfeet genannt – positiv gezeichnet und dessen Ermordung gewürdigt.
Auf der Strecke innenpolitisch-zeithistorischer Kontroversen bleibt jedoch auf jeden Fall das persönliche Schicksal von Engelbert Dollfuß – losgelöst von jeglichem politischen Standort – , dem von seinen Mördern der priesterliche Beistand, als er langsam verblutete, versagt wurde.
DOLLFUSS UND DER CV
Für den CV in Österreich besitzt Dollfuß einen hohen Symbolwert. Für ihn steht der „Märtyrer“ Dollfuß im Mittepunkt des Gedächtnisses. Als Anfang Juli 1933 die Mitglieder der österreichischen Bundesregierung, die dem CV angehörten – an der Spitze Dollfuß – , vom „Führer“ des bereits gleichgeschalteten CV ausgeschlossen wurden, hatte das eine hohe Solidaritätswelle für Dollfuß im österreichischen CV zur Folge.
Umgekehrt wußte Dollfuß, daß er sich auf den CV beim Aufbau des „Ständestaates“ verlassen konnte. Der Dollfuß-Biograph Gordon Brook-Sheperd schreibt: „Für ihn [gemeint Dollfuß, Anm. d. Verf.] war der CV nicht nur eine Quelle der persönlichen Beruhigung und der geistigen Stärkung, er war für ihn auch eine Art Prätorianergarde.“
Dollfuß engagierte sich für seine Verbindung und den CV. So wurde er als Nachfolger von Gustav Steinbauer (F-B) im Januar 1926 Philistersenior der Franco-Bavaria und behielt dieses Amt bis zu seinem Tod. Außerdem war er ab 1930 Vorsitzender des Wiener Altherrenlandesbundes.
Für den österreichischen CV war daher die Ermordung von Dollfuß ein schwerer Schlag, nahezu ein Trauma. Entsprechend lesen sich die offiziellen und inoffiziellen Äußerungen. Der offizielle Trauerkommers des ÖCV wurde am 7. November 1934 in den Wiener Sofiensälen geschlagen. Es war dies der Gedenktag des hl. Engelberts von Köln, einem Märtyrer, der am 7. November 1225 östlich von Köln erschlagen wurde und dabei verblutet ist. Die Trauerrede hielt der neue Philistersenior der Franco-Bavaria, der Bundesminister Fritz Stockinger (ehemals F-B). Ebenso ergriff Bundeskanzler Kurt Schuschnigg (AIn) das Wort, der mit den Worten, „Wofür Dollfuß starb, müssen wir leben!“, schloß.
Ein Beispiel für die Pflege des Dollfuß-Mythos im ÖCV in dieser Zeit sind die Worte aus der Eröffnungsrede des ersten Vorortspräsidenten des ÖCV, Alfred Benn (Nc), bei der 2. Cartellversammlung am 9. März 1935 in Wien: „Der Held ist gefallen, sein Werk aber lebt! Und der ÖCV will ein Träger und allzeit getreuer Verfechter seiner hohen Idee sein und steht daher geschlossen hinter seinem Nachfolger, dem CVer Dr. Schuschnigg [...] Ihm wollen wir daher mit voller Hingabe auf dem harten Weg folgen, welcher emporführt zu einem freien, katholischen, deutschen Österreich. Der CV ist nun einmal dem österreichischen Erneuerungswerke Dr. Dollfuß’ verhaftet.“
Dollfuß erhielt von einer Reihe von Verbindungen das Band verliehen. Es waren diese aber – wie gelegentlich fälschlicherweise behauptet wird – nicht alle österreichischen Verbindungen. Neben seiner Urverbindung trug er noch 19 weitere Bänder.
Zu beachten ist aber dabei: Das Band der Amelungia erhielt Dollfuß noch als Aktiver offenbar im Zusammenhang mit deren Aufnahme in den CV, das der Germania Berlin zwangsläufig als dortiger Verkehrsaktiver und das des Pflug, weil diese Verbindung die Tochterverbindung der Franco-Bavaria war. Zwei Bänder (Austria Wien und Rudolfina) erhielt er, noch bevor er Minister wurde. Drei Bänder erhielt er in der Zeit als Minister (Marco-Danubia, Alpenland, Bajuvaria) und ein Band (Norica) als Bundeskanzler vor seinem „Ausschluß“ im Juli 1933. Die restlichen zehn wurden von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem Tod verliehen. Das letzte Band war das der Vindelicia. Dort wurde Ende Juni 1934 der Beschluß gefaßt, aber das Band konnte nicht mehr überreicht werden.
Aus welchen Gründen auch immer erhielt er von folgenden acht ÖCV-Verbindungen nicht das Band: Babenberg Wien, Carolina, Glückauf Leoben, Kürnberg, Raeto-Bavaria, Rheno-Danubia, Rugia und Traungau. Das sollte man aber nicht überbewerten und hier auf keinen Fall „Verschwörungstheorien“ erblicken. Der Grund dürfte relativ banal sein: Es gab wohl zwischen den Sommern 1933 und 1934 nicht genügend Zeit dafür.
Darüber hinaus war Dollfuß Ehrenphilister der katholischen Pennalie Amelungia Innsbruck (nunmehr MKV) und Ehrenmitglied der Innsbrucker KV-Verbindung Tirolia.
DAS GEDENKEN AN DOLLFUSS
Als Ruhestätte für Ignaz Seipel wurde auf Veranlassung von Dollfuß von Clemens Holzmeister (Nc) im 15. Wiener Gemeindebezirk die Christkönigskirche errichtet. Dollfuß wurde dann dort auch bestattet, so daß diese Kirche bis 1938 „Seipel-Dollfuß-Gedächtniskirche“ genannt wurde.
In ganz Österreich wurden Straßen und Plätze nach Dollfuß benannt, Dollfuß-Denkmäler errichtet und Dollfuß-Büsten enthüllt. In Wien wurde der nunmehrige Rooseveltplatz (bei der Votivkirche) in Dollfuß-Platz umbenannt. Er hieß in der Monarchie Maximilian-Platz (nach Maximilian, Kaiser von Mexiko, dem Bruder Kaiser Franz Josephs), in der Ersten Republik Freiheitsplatz und in der Nazi-Zeit Hermann-Göring-Platz. 1946 wurde er von der US-Besatzungsmacht (der 9. Bezirk gehörte zum amerikanischen Sektor) in Rooseveltplatz benannt, welchen Namen er nach 1955 weiter behielt.
Der Schriftsteller Rudolf Henz, nach 1945 Direktor beim Österreichischen Rundfunk und Funktionär der Katholischen Aktion, verfaßte den Text zu einem Dollfuß-Lied: „Ihr Jungen, schließt die Reihen dicht, ein Toter führt uns an!“ Ein Beispiel für viele andere derartigen Versuche.
Nach dem Anschluß 1938 wurden die Särge von Seipel und Dollfuß aus der Christkönigskirche verlegt. Während Seipel immerhin ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof erhielt, wurde Dollfuß auf dem Hietzinger Friedhof beigesetzt, wobei nach 1945 die Gemeinde Wien dafür die Kosten übernommen hatte. Seit ungefähr 2010 versucht eine kleinkarierte rot-grüne Koalition, dies infrage zu stellen.
Maximilian Liebmann (Cl) resümiert zurecht: „Solange es Straßen, Gassen und Plätze gibt, die nach Richard Bernaschek und Koloman Wallisch benannt sind, aber keine nach Engelbert Dollfuß, ist Wesentliches an Österreichs jüngerer Geschichte nicht aufgearbeitet, sondern bloß ideologisch instrumentalisiert.“
Werke:
Das Kammersystem in der Landwirtschaft Österreichs (1929).Die Altersfürsorgerente in der Land- und Forstwirtschaft Osterreichs. Eine Anleitung für Wien, Niederösterreich und Burgenland (1929).
Quellen und Literatur:
Academia 28 (1915/16), S. 298; 43 (1930/31), S. 188.Mitteilungsblatt des ÖCV und des ÖAHB 6 (1. 10. 1934), S. 2f. und 7 (20. 1. 1935), S. 1f.
John, Gregory D.: Dollfuß and his time. London 1935.
Lugmayer, Franz (Aa): Dolltuß-Gedenken. Gedichte. Linz 1937.
Eichstädt, Ulrich: Von Dollfuß zu Hitler. Geschichte des Anschlusses Österreichs 1933–1938. Wiesbaden 1955.
Mauser, Rosa: Die Genesis des politisch-sozialen Ideengutes des Bundeskanzlers Dr. Engelbert Dollfuß. Wien phil. Diss. 1959.
Sheperd, Gordon: Engelbert Dollfuß. Graz 1961 (London 1961).
Jagschitz, Gerhard: Die Jugend des Bundeskanzlers Dollfuß. Ein Beitrag zur geistig-politischen Situation der sogenannten „Kriegsgeneration“ des Ersten Weltkriegs. Wien phil. Diss. 1967.
Kendrick, Clyde K.: Austria under the chancellorship of Engelbert Dollfuß, 1932–34. Washington 1968.
Jagschitz, Gerhard: Der Putsch. Die Nationalsozialisten 1934 in Österreich. Graz 1976.
Skalnik, Kurt: Wer war Engelbert Dollfuß?, in: Österreichische Academia 27 (1976), Juli/August, S. 26–29.
Binder, Dieter A.: Dollfuß und Hitler. Über die Außenpolitik des autoritären Ständestaates in den Jahren 1933/34 (= Dissertationen der Universität Graz 43). Graz 1976.
Der österreichische Ständestaat. Engelbert Dollfuß zwischen Sozialismus und Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte. Hg. von der K. D. St. V. Borussia-Saxonia im CV. Seminar zum 85. Stiftungsfest, Berlin 7. bis 11. Juni 1984. Redaktion Peter Muschol (F-B) und Manfred Kuhl (F-B). Mit Beiträgen von u. a. Fritz Bock (NdW), Gerhard Hartmann (Baj) und Maximilian Liebmann (Cl). Berlin 1984.
Engelbert Dollfuß. Politiker, Mensch, CVer. Hg. vom Wiener Cartellverband. Wien 1984.
Farbe tragen, Farbe bekennen 1938–45. Katholisch Korporierte in Widerstand und Verfolgung. Hg. von Herbert Fritz, Reinhart Handl, Peter Krause (Rt-D) und Gerhard Taus (Am). Wien o. J. (1988), S. 148f.
Miller, James William: Engelbert Dollfuß als Agrarfachmann. Eine Analyse bäuerlicher Führungsbegriffe und österreichischer Agrarpolitik 1918– 1934. Aus dem Englischen. Wien 1989.
Liebmann, Maximilian (Cl): Die Tragik des 12. Februar und Dollfuß, in: Christliche Demokratie 10 (1993), S. 27–45 .
Schausberger, Franz (Rp): Letzte Chance für die Demokratie. Die Bildung der Regierung Dollfuß I im Mai 1932. Bruch der österreichischen Proporzdemokratie. Wien 1993
Dollfuß, Eva: Mein Vater. Hitlers erstes Opfer. Wien 1994.
Kindermann, Gottfried-Karl: Österreich gegen Hitler. Europas erste Abwehrfront 1933 – 1938. München 2003.
Walterskirchen, Gudula: Engelbert Dollfuss. Arbeitermörder oder Heldenkanzler. Wien 2004.
Hartmann, Gerhard (Baj): Für Gott und Vaterland. Geschichte und Wirken des CV in Österreich. Kevelaer 2006, S. 214, 220, 230, 252, 267f., 275, 334, 343–348, 362–366, 378–411, 417, 420, 429, 440f., 480, 486f., 493, 504 und 543.
Farbe tragen, Farbe bekennen 1938–45. Katholisch Korporierte in Widerstand und Farbe Verfolgung. Hg. von Peter Krause (Rt-D), Herbert Reinelt und Helmut Schmitt. Zweite wesentlich erweiterte Auflage. Teil 2: Kuhl, Manfred (F-B): Ergänzungsband Biographien. Wien 2020, S. 54.