Lebenslauf:
HERKUNFT UND AUSBILDUNG
Stockinger wurde als Sohn eines Kaufmanns geboren und trug als gängigen Rufnamen Fritz. Er besuchte in Wien sowie in Waidhofen an der Thaya die Realschule. Nach der Matura im Jahr 1912 begann er das Studium des Hochbaus an der Technischen Hochschule in Wien, wo er der Franco-Bavaria beitrat (Couleurname Fritzl) und im Wintersemester 1913/14 Senior war. Sein älterer Bruder Michael war bereits Mitglied dieser Verbindung. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges meldete sich Stockinger sofort als Freiwilliger beim Wiener Neustädter k. u. k. Feldkanonenregiment Nr. 6 (letzter Dienstgrad: Oberleutnant der Reserve; Auszeichnungen: Militärverdienstkreuz, silbernes Sigum laudis, Signum laudis – diese jeweils mit Kriegsdekoration – und Karl-Truppenkreuz). Im Bundesheer der Ersten Republik war er dann Hauptmann der Reserve.
Nach dem Krieg studierte Stockinger nicht mehr weiter, sondern absolvierte einen Abiturientenkurs an der Handelsakademie und belegte Vorlesungen an der Exportakademie (später Hochschüle für Welthandel bzw. nunmehr Wirtschaftsuniversität). Er trat in die Kolonialwarenfirma seines Schwiegervaters Johann Gabler (F-B EM) ein und übernahm nach dessen Tod (1918) diesen Betrieb am 1. Januar 1923 als Alleininhaber. Der Bruder seiner Frau war Vinzenz Gabler (Nc, F-B), der Gründungs-Fuchsmajor der Franco-Bavaria. Darüber hinaus hatte Stockinger die Konzession für den Briefmarkenhandel, den Kleinverschleiß von gebrannten geistigen Getränken sowie von Lebensmitteln.
BERUFLICHE UND POLITISCHE LAUFBAHN
Stockinger engagierte sich recht bald in der wirtschaftlichen Interessensvertretung. Er wurde in der Folge Gremialrat der Wiener Kaufmannschaft, Vorstand des Gewerbebundes, Präsident der Verbände der Lebensmittelgroßhändler Österreichs sowie der österreichischen Zuckergroßhändler. Auch wurde er Mitglied mehrerer Verwaltungsräte, so u. a. auch der Wiener Mercurbank und bei der Milchindustrie AG (MIAG). Im April 1927 wurde er Mitglied des Beirats für Handelsstatistik und erhielt dadurch als noch nicht 33-jähriger den Titel Kommerzialrat.
Stockinger war eng mit dem etwas älteren Engelbert Dollfuß (F-B) befreundet. Als dieser zum Bundeskanzler ernannt wurde, nahm er bei einer Regierungsumbildung Stockinger als Handelsminister in sein Kabinett. Dieser holte fast täglich Dollfuß in der Früh ab, um gemeinsam zu Fuß zum Kanzleramt zu gehen. Auch gab es häufig gemeinsame Tarockpartien. Neben der Freundschaft zwischen den beiden waren wohl auch Stockingers Funktionen in den wirtschaftlichen Interessensvertretungen für diese Berufung ausschlaggebend. Er bekleidete vom 10. Mai 1933 bis 3. November 1936, also rund dreieinhalb Jahre, das Amt eines Bundesministers für Handel und Verkehr (Regierungen Dollfuß I bis Schuschnigg II). Bereits im Jahr seiner Berufung als Minister wurde er von der sozialdemokratischen Presse der Korruption beschuldigt.
Als am 3. Oktober 1933 das erste Attentat auf Dollfuß verübte, stand im Foyer des Parlaments Stockinger neben ihm. Gemeinsam mit einem Polizisten konnte er dem Attentäter die Pistole wegschlagen, so daß es nicht mehr zu einem zweiten Schuß gekommen ist. Ein Beweis für das Vertrauensverhältnis, das zwischen ihm und Dollfuß herrschte, war auch folgender Umstand: Im Sommer 1934 sollte Dollfuß nach Italien zu Benito Mussolini fahren, wozu es aber wegen des NS-Putsches nicht mehr kam. Um davor die innenpolitische Lage zu klären, beauftragte er Stockinger, mit Anton Reinthaller, einem Vertreter der gemäßigten österreichischen Nationalsozialisten und von 1956 bis 1958 Obmann der FPÖ, ein Gespräch zu führen. Dieses fand am 24. Juli, also einem Tag vor dem Putsch, statt.
Stockinger förderte aufgrund seiner beruflichen Herkunft in seiner Ministerzeit stark den Handel und das Gewerbe. In seiner Amtszeit wurde die Gewerbeordnung novelliert, weiters wurde das Untersagungsgesetz beschlossen sowie der Verkauf von Lebensmitteln in Großkaufhäusern verboten. Er förderte den Außenhandel und vor allem auch den Fremdenverkehr. In seiner Amtszeit sank das Außenhandelsbilanzdefizit von 618 Mio. Schilling im Jahr 1932 auf 296 Mio. Schilling im Jahr 1936. Als Verkehrsminister war Stockinger verantwortlich für den Bau der Wiener Reichsbrücke, die von Clemens Holzmeister (Nc) geplant wurde, sowie der Großglocknerstraße. In seiner Zeit wurde auch die Tauernbahn zwischen Schwarzach-St. Veit und Spittal/Drau elektrifiziert. Durch Verbilligung für die Verbraucher konnte auch die Zahl der privaten Telefonanschlüsse um 30 Prozent gesteigert werden. Ebenso wurde unter ihm die Autosteuer abgeschafft.
In Stockingers Ministerzeit wurde auch der Grundstein für die Schaffung der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft gelegt. Diese wurde schließlich Anfang 1938 errichtet. Als deren Präsident Julius Raab (Nc) am 16. Februar 1938 zum Handelsminister ernannt wurde, übernahm Stockinger dieses Amt. Er begann als Minister auch mit der Errichtung von Außenhandelsstellen, deren Ausbau dann nach 1945 fortgesetzt wurde. Seine Ministerzeit stand im Zeichen einer zielbewußten Gewerbe- und Exportförderung, womit auch die Arbeitslosigkeit bekämpft werden konnte.
Nach seinem Rücktritt als Minister, der auch im Zusammenhang mit der Regierungsumbildung im Gefolge des Juli-Abkommens von 1936 zu sehen ist, wurde Stockinger Präsident der Verwaltungskommission der Österreichischen Bundesbahn, deren Mitglied er bereits seit 1931 war. In dieser Funktion gelang es ihm, erstmals in der Geschichte der österreichischen Staatsbahnen für das Betriebsjahr 1937 kein Defizit auszuweisen. Dies erreichte er u. a. durch eine drastische Senkung des Inlands-Personentarifs, wodurch eine große Zahl von Bahnkunden geworben werden konnten.
DIE ZEIT AB 1938
Im Zuge des Anschlusses floh Stockinger aus Österreich über Budapest und Prag nach Paris. Dabei ließ er seine Frau und seinen Sohn in Österreich zurück. Das Motiv für seine Flucht ist nicht mehr eruierbar. Er war sicherlich einer der führenden Repräsentanten des „Ständestaates“, jedoch gehörte er nach seinem Ausscheiden aus der Regierung nicht mehr der Spitzenriege an. Wieweit es Angst war, oder ob es auch noch andere Gründe gab, weiß man nicht. Es gab zwar einige Spitzenpolitiker des „Ständestaates“, die flohen bzw. ins Exil gingen, neben Stockinger waren das u. a. die Bundesminister Josef Dobretsberger (Cl) und Guido Zernatto. Doch die Mehrzahl wurde von den Nazis verfolgt. Dessen ungeachtet gab es aber auch eine Reihe von Spitzenpolitikern bzw. Minister, die nicht verfolgt wurde, wie z. B. Julius Raab (Nc), Ludwig Strobl (F-B) oder Guido Schmidt (ehemals Nc). Stockinger muß offenbar subjektiv Angst um seine Person gehabt haben.
Interessant ist jedenfalls, daß sich Stockingers Frau bereits im Juli 1938 – also bald nach dem Anschluß und seiner Flucht – von ihm hat scheiden lassen. Auffällig dabei ist, daß diese Scheidung noch vor Inkrafttreten des deutschen Eherechts mit 1. August 1938, aber im Vorgriff auf dieses, ausgesprochen wurde. Bis dahin war nach österreichischem Recht nur nach einem langwierigen Verfahren eine Scheidung möglich, eine Wiederheirat war ausgeschlossen. Daher scheinen dafür private Gründe der üblichen Natur nicht für diesen Schritt ausschlaggebend gewesen zu sein. Entweder wurde Druck seitens der Nazi-Behörden auf Frau Stockinger ausgeübt, oder es wurde von ihrer Seite dieser Schritt eingeleitet, um vor Sippenhaftung bewahrt zu werden bzw. die Firmeninhaberschaft zu sichern.
In einem Gerichtsverfahren gegen Franz Krusche (Pf, F-B) wegen eines Vergehens nach dem Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei (sog. „Heimtückegesetz“) wird mehrfach Stockinger zitiert. Nach dessen Flucht nach Paris hatte Krusche 1938/39 regelmäßigen persönlichen und brieflichen Kontakt zu diesem. Jedenfalls geht aus den Gerichtsakten hervor, daß Stockinger versucht haben soll, Vermögenswerte nach Paris zu schaffen, daß es ihm dort nicht gut ging und daß er vorhatte, in Berlin auszuloten, ob eine Rückkehr nach Wien für ihn ohne Gefahr möglich gewesen wäre. Ebenso kann man aus dem Briefverkehr zwischen Krusche und Stockinger schließen – anstatt der richtigen Namen wurden Decknamen verwendet – , daß die erwähnte Scheidung nicht private Ursachen gehabt haben dürfte.
Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs soll Stockinger zusammen mit dem ehemaligen Vizekanzler Ernst-Rüdiger Starhemberg, dem ehemaligem Minister Guido Zernatto und dem ehemaligen Staatssekretär Hans Rott in Paris versucht haben, eine von der französischen Regierung anerkannte österreichische Exilregierung zu gründen und eine österreichische Legion aufzustellen. Spätestens zu Beginn des Frankreichfeldzugs im Mai 1940 setzte sich Stockinger in die USA und dann nach Kanada ab. Wovon er dort und vorher in Paris gelebt und was er getan hat, ist nicht bekannt. Angegeben wird „Industrieberater“. Interessant ist, daß er auf der „Sonderfahndungsliste GB“ des SD Inland gestanden, obwohl er sich nicht in Großbritannien aufgehalten hat.
Angeblich soll Stockinger in Cobourg (Provinz Ontario), einer Kleinstadt 75 km östlich von Toronto, gelebt haben. Von Julius Raab (Nc), nach 1945 Präsident der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, wurde er 1955 zum Österreichischen Handelsdelegierten in Kanada mit Sitz in Toronto bestellt, welche Funktion er bis 1966 ausgeübt hatte. In den ersten fünf Jahren seiner diesbezüglichen Tätigkeit hat sich das Exportvolumen von Österreich nach Kanada mehr als verdoppelt (von 2,7 Mio. Dollar auf 6 Mio. Dollar).
STOCKINGER UND DER CV
Stockinger war mit Sicherheit begeisterter CVer. Er war bei der Gründung des Pflug, der Tochterverbindung der Franco-Bavaria, beteiligt und deren erster Philistersenior. Sein Nachfolger in dieser Funktion war übrigens der spätere Landwirtschaftsminister Ludwig Strobl (F-B, Pf). Als Dollfuß 1934 ermordet wurde, übernahm Stockinger dessen Amt als Philistersenior bei der Franco-Bavaria, welches er bis 1938 ausübte. In der Folge wurde er auch Bandphilister der Bajuvaria, der Amelungia, der Rudolfina und der Welfia. Als er Minister machte er Emil Garhofer (Nc) – nach 1945 Sektionschef – zu seinem Sekretär bzw. betraute ihn im Präsidium des Ministeriums mit der Säuberung von Nationalsozialisten.
Berichten zufolge hat Stockinger in Kanada nochmals geheiratet haben (der Name Olga N. ist überliefert). Aus diesem Grund hat er sich nach 1945 bei seiner Urverbindung wahrscheinlich nicht mehr zurückgemeldet. Trotzdem sind nach 1945 Kontakte von ihm zu CVern nachzuweisen. Seine erste Frau starb 1969, sein gleichnamiger Sohn, der 1946 kurz Fuchs bei der Franco-Bavaria war, 1971 mit 50 Jahren.
Quellen und Literatur:
Verbindungsarchiv Franco-Bavaria (Karl-Wolfgang Schrammel, 30. 11. 2016; Gedächtnisprotokoll Gespräch mit Viktor Masura, 1997).Mitteilung von Dr. Claudia Tanscits (Email vom 6. 12. 2016).
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) 13.606 (Urteil in der Strafsache gegen Franz Krusche vom 28. Dezember 1939).
Ac 40 (1927/28), S. 77.
Reichspost, 20. 7. 1938 (Bericht über Scheidung Stockingers)
Hundert Jahre im Dienste der Wirtschaft. Herausgegeben vom Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau. Gesamtredaktion Bruno Zimmel (Rd). Wien 1961, S. 455–455.
Jagschitz, Gerhard: Der Putsch. Die Nationalsozialisten 1934 in Österreich. Graz 1976, S. 64.
Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Band 1: Politik, Wirtschaft und Öffentliches Leben. Hg. vom Institut für Zeitgeschichte in München. Unter der Gesamtleitung von Werner Roeder und Herbert A. Strauss. München 1980, S. 736.
Veiter, Theodor: Das 34er Jahr. Bürgerkrieg in Österreich. Wien 1984, S. 95.
Goldinger, Walter–Binder, Dieter A.: Geschichte der Republik Österreich 1918–1938. Wien 1992, S, 234.
Dollfuß, Eva: Mein Vater. Hitlers erstes Opfer. Wien 1994, S. 108 und 208.