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Univ.-Prof. Dr. Friedrich Heer

Univ.-Prof. Dr. Friedrich Heer

Urverbindung: Bajuvaria (17.10.1934)

Geboren: 10.04.1916, Wien
Gestorben: 18.09.1983, Wien
Aus dem ÖCV ausgeschieden, Chefdramaturg des Burgtheaters, tit. ao. Universitätsprofessor, Publizist, Schriftsteller

Lebenslauf:

HERKUNFT UND AUSBILDUNG

Heer wurde, wie er einmal bemerkte, noch als Untertan des Königs von Jerusalem und des Herzogs von Auschwitz, nämlich des diese Titel tragenden Kaisers Franz Joseph, geboren und war der Sohn eines Versicherungsangestellten. Er stammte aus Wien-Wieden und war mit Annette von Droste-Hülshoff sowie dem Schweizer Bundesrat und Bundespräsidenten Joachim Heer verwandt. Seine Eltern trennten sich, als er vier Jahre alt war, und er lebte fortan bei seiner Mutter. Dieses Erlebnis war für ihn ein kindliches Trauma, das ihn tief geprägt hat und das wahrscheinlich die widersprüchlichen Facetten seines Lebens mit verursacht haben düfte.

Heer absolvierte nach der Volksschule das Akademische Gymnasium in Wien, wo sein Klassenkollege der spätere SPÖ-Justizminister Christian Broda war. Nach seiner Matura im Jahr 1934 begann er das Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien (Dr. phil. 1938), wo er der Bajuvaria beitrat (Couleurname Stuß). Seinen Beitritt zum CV kommentierte Heer Anfang 1972 in der „Kleinen Zeitung“:

„Ich trete in eine farbentragende katholische Verbindung ein, die sich jeden Mittwoch und jeden Samstag mit den nationalsozialistischen Studenten rund um die Aula schlägt, weil ich Farbe bekennen möchte. […] Ich bin Carteller geworden, weil ich der Überzeugung war, man muß sich der Flut stellen. Damals wurde man […] gerissen, geboxt und geschlagen. Gerade als ausgesprochener Individualist möchte ich um nichts in meinem Leben die erzieherische Funktion des Farbebekennens vermissen. In diesen Jahren war in den Korporationen […] die einzige Form der lebendigen Demokratie in Österreich zu finden.“

1935 hielt sich Heer studienhalber in Riga, Königsberg sowie Berlin auf und absolvierte 1936 den Vorbereitungskurs beim Institut für österreichische Geschichtsforschung. Die von ihm selber erzählten sechsmaligen Verhaftungen nach dem Anschluß, die erste bereits am 11. März 1938, sind als solche nicht nachweisbar und mit höchster Wahrscheinlichkeit eine spätere Fiktion. Nach seiner Promotion absolvierte er 1938/39 das Institut für Österreichische Geschichtsforschung und wurde am 1. Mai 1940 zur Deutschen Wehrmacht einberufen. Er war zuerst im Protektorat Böhmen-Mähren sowie in Frankreich stationiert und machte dann den Beginn des Rußlandfeldzuges im Südabschnitt (Bessarabien) mit. Bald wurde er bei einer Luftnachrichteneinheit auf einem norddeutschen Fliegerhorst eingesetzt, wo er den ganzen Krieg über war.

BERUFLICHE LAUFBAHN NACH 1945

Nach kurzer britischer Kriegsgefangenschaft kehrte Heer Anfang 1946 nach Wien zurück und schlug sich zuerst als freier Journalist und Autor durch. So war er auch mit Otto Mauer an der Gründung der Zeitschrift „Wort und Wahrheit“ beteiligt und begann als freier Mitarbeiter der katholischen Wochenzeitung „Die Furche“, deren Herausgeber der bedeutende katholische Publizist Friedrich Funder (Cl) war. Mit 1. Januar 1948 wurde er dort festangestellter Redakteur. 1949 ehelichte er die Schauspielerin Eva Peyrer-Heimstatt.

Daneben arbeitete Heer wissenschaftlich und habilitierte sich im November 1950 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien für Geistesgeschichte des Abendlands. Seine Forschungs- wie Publikationsschwerpunkte lagen sowohl beim Hochmittelalter, als auch bei der neuesten Geschichte. In seinen zahlreichen und thematisch vielfältigen Publikationen beschäftigte sich Heer mit der Geschichte Europas und seinen geistesgeschichtlichen Bezügen. Daneben veröffentlichte er auch literarische Werke (Romane).

In der „Furche“ veröffentlichte Heer häufig Premieren- bzw. Theaterkritiken. Das veranlaßte den Ende 1953 zum Leiter der Bundestheaterverwaltung ernannten Ernst Marboe (Baj), Heer den Posten eines Direktors des Burgtheaters bzw. zumindest eines Chefdramaturgen anzubieten. Doch er lehnte ab, weil dieses ehrende Angebot seinen beruflichen Vorstellungen – jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt – nicht entsprochen hätte.

Nach dem Tod von Richard Schmitz (Nc) im Jahr 1954 wurde Willy Lorenz, bisher Redakteur der „Furche“, Generaldirektor des katholischen Herold-Verlages, wo die „Furche“ erschien. 1959 starb deren Herausgeber Friedrich Funder. Er wollte haben, daß Heer sein Nachfolger werde. doch Lorenz übernahm schließlich selbst diese Position. Doch eigentlich sollte nach Lorenz‘ Vorstellungen Emil Franzel diese Stelle einnehmen, gegen den sich wegen dessen NS-Vergangenheit Widerstand regte.

Als sich das Abdriften der „Furche“ in Richtung Rechtskonservatismus abzeichnete, verließ Heer die Redaktion und wurde mit 30. Juni 1961 zum Leiter der Dramaturgie am Wiener Burgtheater, dessen Direktor damals Ernst Haeussermann war, bestellt, was auch vom zuständigen Unterrichtsminister Heinrich Drimmel (NdW) begrüßt wurde. Später fungierte er dort bis zu seiner Pensionierung am 31. Januar 1981 als Leiter des Sekretariates für kulturelle Angelegenheiten und internationale Kontakte.

Am 22. Dezember 1961 erhielt Heer, der regelmäßig Vorlesungen an der Universität abhielt, den Titel eines außerordentlichen Universitätsprofessors verliehen. Die Berufung auf einen Lehrstuhl bzw. zum ordentlichen Universitätsprofessor blieb ihm jedoch versagt. Dafür sorgten zum einen der zuständige Ressortminister Drimmel, zum anderen die Fachkollegen. Diese ablehnende Haltung wurde jedoch der weltanschaulichen Ausrichtung dieses Geistes- und Kulturhistorikers nicht gerecht. „Sie hatten seinem Gedankenreichtum und seiner Themenvielfalt kaum etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen und fürchteten vor allem dessen immense Produktivität.“ (Michael Gehler) Auch galt er bei den Fachkollegen als „schwierig“, sogar „unverträglich“, wenn nicht sogar „undiszipliniert“

HEERS GEISTIGES SCHAFFEN

Heer war ein Ideen-, Religions- und Kulturhistoriker, das wird vor allem in seinem publizistischen Schaffen sichtbar (siehe unten im Werkverzeichnis), das mehr als 50.000 Buchseiten umfaßt. Als Historiker war er weniger der in Archiven unermüdliche Erforscher von Details, sondern er bemühte sich um eine interpretierende und erklärende, ja vielfach erzählende Gesamtschau spezieller Ereignisse, Epochen oder Personen. Er widmete sich u. a. der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches und seines Verhältnisses zu Europa. Nach ihm war Karl der Große der „Vater Europas“, dessen Reich die Strukturen der europäischen Geschichte vorgeprägt hat. Für ihn war das 11. und 12. Jahrhundert, die Zeit der Salier und Staufer, die Entscheidungs- und Formationsepoche für das neue Europa. Das übernationale Heilige Römische Reich war in Verbindung mit dem Habsburgerreich Karls V., wo „die Sonne nicht unterging“, ein Europa der Einheit in der Vielfalt im Kleinen. Nach Heer ist der „Motor des Abendlandes sein christlicher Sprengkern“.

Für Heer war auch das Europa der Aufklärung, der Offenheit und der Toleranz entscheidend. Eine rasche Einigung Europas hielt er für unhistorisch und letztlich auch für gefährlich, denn „Europa lebt nur in seinen Gegensätzen“. Er war zwar ein überzeugter Europäer, jedoch blieb er notgedrungenerweise den üblichen Denkkategorien der damaligen Zeit verhaftet, wo eine Entwicklung, wie sie nach 1989 stattfand, außerhalb der realen Vorstellungswelt verblieb. Seine Analysen der geistigen Dimension Europas können daher nur als Anregung für den gegenwärtigen Diskurs in der EU herhalten, nicht jedoch als Vorschläge für politische Lösungen.

Heer analysierte wie kein anderer Historiker die politische Kultur sowie die historische und gesellschaftspolitische Befindlichkeit Österreichs und der Zweiten Republik. Hierbei ist er in einer Linie mit den Vertretern der „österreichischen Idee“ zu sehen, wie man sie bei August Maria Knoll (NbW), Ernst Karl Winter (NbW) und Hans Karl Frhr. Zeßner von Spitzenberg (Tt) findet und wie sie durch seinen Freund Ernst Marboe (Baj) nach 1945 in gewisser Weise eine Fortsetzung fand. Für Heer waren der Staatsvertrag und die damit verbundene Neutralität eine Chance für einen neuen Weg Österreichs. Dessen Identität verortete er in einem offenen und international ausgerichteten Patriotismus.

Heer beschäftigte sich auch mit dem vor allen in Österreich relevanten Antisemitismus. In diesem Zusammenhang ist auch eines seiner Hauptwerke zu sehen, nämlich „Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler“. Als dieses 1967 erschienen ist, veröffentlichte das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zu diesem einen umfangreichen Beitrag, der vom Herausgeber Rudolf Augstein selber verfaßt wurde. In diesem Werk beschäftigte sich Heer u. a. mit der katholischen Milieuprägung Adolf Hitlers, die Auswirkungen auf die „Partei-Liturgie“ der NSDAP hatte, wie er nachweisen konnte.

Dieser Deutungsansatz wurde in seinem 1968 erschienen Werk „Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität“ fortgesetzt, das 1998, 30 Jahre später, neu aufgelegt wurde. Es ist inzwischen eines der wesentlichen Standardwerke der Hitler-Forschung geworden. Ausgehend von seiner Befassung mit dem christlich inspirierten Antisemitismus spürte er dem Glauben Adolf Hitlers nach und begriff ihn als österreichischen Katholiken. Dieser haßte, bewunderte und ahmte gleichzeitig die katholische Kirche nach. So entdeckte Heer in Hitlers Reden religiöse Zwischentöne und die Verwendung liturgischer Formeln (etwa beim Schluß der großen Wahlkampfrede im Berliner Sportpalast am 10. Februar 1933). Dessen häufiger Rekurs auf die „göttliche Vorsehung“ gehörte ebenfalls dazu.

Neben den genannten Themen war vor allem auch die katholische Kirche ein sehr wichtiger Bezugspunkt für Heers Reflexionen. Das zeigt sich bereits bei seiner ersten Veröffentlichung nach dem Krieg „Die Stunde des Christen“, wo er die Christen auffordert, an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Hierbei führte er den von Ernst Karl Winter schon vor 1938 ins Spiel gebrachten Linkskatholizismus weiter. Diesbezüglicher Höhepunkt war sein 1963 mit Wilfried Daim (Rd) und August Maria Knoll veröffentlichtes Buch „Kirche und Zukunft“, das den drei Verfassern von traditionellen Kreisen heftige Kritik eintrug. Der „Treppenwitz“ dabei war, daß die dort gemachten Forderungen und Vorschläge größtenteils kurz danach vom Konzil und in der weiteren nachkonziliaren Entwicklung umgesetzt wurden.

„Meine Katholizität ist in sehr tiefen Schichten eingewurzelt. Sie ist für mich seit langem gegen alle Angriffe und Mißverständnisse und Mißdeutungen etc. gefeit. Ich habe versucht, Katholizität durch mein Leben mitzuteilen, möglichst subkutan, ohne Bekehrerei, ohne Kreuzzüge. […] Katholizität ist für mich seit vielen Jahrzehnten in meinem Leben gewachsen. Gott sei Dank ist mein Gott gewachsen in meinem Leben und ist nicht eng und klein geblieben. Katholizität ist für mich vorzüglich eine Lebenshaltung, die sich bemüht im Ringen um immer größere Öffnung nach innen und außen. […] Katholizität, also ein tägliches Ringen und Erleben im Prozeß, mich nach innen und außen zu öffnen zur Wahrnehmung der fortschreitenden täglichen behinderten Menschwerdung des Menschen – mit Angelus Silesius: ‚Und wäre Christus hundert Mal geboren und nicht in dir, du wärest doch verloren.‘ Das ist das große Thema.“ („Ausgesprochen“, S. 70)

Heers reformorientierte Haltung in theologischen bzw. innerkatholischen Fragen sollte im Zusammenwirken mit seiner speziellen charakterlichen Orientierung in der Kommunikation, die für normale bürgerliche Verhaltensmuster schwer zu verstehen bzw. zu ertragen war, letztlich zum „Scheitern in Wien“ führen, wie einer seiner späten Romane hieß. Diesen Roman regte Heimito von Doderer bei Heer an, die übrigens beide eine phänotypische Ähnlichkeit besaßen. Eine solche bestand auch zu Reinhold Schneider, mit dem Heer tief befreundet war und dessen Roman „Winter in Wien“ die Titelformulierung inspirierte.

FRIEDRICH HEER UND SEIN SCHEITERN IM UND AM CV

Heer war in seiner unbestrittenen Geistesgröße ein unbequemer und nicht leicht zu fassender Charakter, was nicht selten ein Kennzeichen solcher Ausnahmeerscheinungen ist. Das führt zwangsläufig zu Konflikten, an deren Ende oft jene als Ausgegrenzte und Opfer übrigbleiben. Heer zählte in seiner Verbindung Bajuvaria zu diesen. Er geriet in der Zwiespältigkeit der ersten Hälfte der siebziger Jahre zwischen den Mühlsteinen der heftigen Kontroversen um die Strafrechtsreform und hier besonders beim Thema Abtreibung.

Höchst bemerkenswert war sein Interview in der „Academia“, das 1966 erschienen ist und seltsamerweise an einem 20. April aufgenommen wurde. Das Interview führten der damalige provisorische Academia-Amtsträger Heribert Steinbauer (AW) sowie der spätere (ab 1973) Academia-Amtsträger Ernst-Wolfram Marboe (Baj). In diesem Gespräch, als „Nahaufnahme Friedrich Heer“ tituliert, werden zum einen die großen Linien seines geistigen Schaffens sichtbar, aber auch das Bekenntnis zum CV, wie er es dann nochmals Anfang 1974 in der „Kleinen Zeitung“ (siehe oben) formuliert hatte.

Im Jahr 1971 wurde der Strafrechtsentwurf von SPÖ-Justizminister Christian Broda fertiggestellt. Bezüglich der Abtreibung war zuerst eine gegenüber früher erweiterte Indikationenlösung vorgesehen, die von der Kirche (Bischofskonferenz) und der ÖVP teils heftig kritisiert wurde. Bei den Nationalratswahlen im Oktober 1971 erhielt die SPÖ die absolute Mehrheit und war daher in dieser Frage nicht mehr auf einen Kompromiß angewiesen. Bei deren Bundesparteitag vom 17. bis 19. April 1972 in Villach wurde nun die sog. Fristenlösung beschlossen. Innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft sollte die Abtreibung überhaupt straffrei bleiben, danach gelte die vorgesehene Indikationenlösung.

Das führte zu weiteren heftigen Reaktionen seitens der Bischöfe, der ÖVP sowie verschiedener katholischer Verbände, darunter auch eine gemeinsame Stellungnahme von ÖCV und MKV. Mitten in dieser aufgeheizten Atmosphäre und in den Beratungen zum neuen Strafrecht im Justizunterausschuß wurde in der „Arbeiter-Zeitung“, dem SPÖ-Parteiorgan, am 6. März 1973 ein Interview mit Heer veröffentlicht, dessen Untertitel lautete: „Was der ‚betrübte‘ Katholik Friedrich Heer zur Abtreibungsfrage zu sagen hat.“ Darin wird von ihm allerdings an keiner Stelle die Abtreibung als Mittel der Geburtenregelung befürwortet, sondern nur deren Strafreiheit gefordert. Er betont vor allem die freie Gewissensentscheidung des einzelnen sowie die Toleranz gegenüber den in großer seelischer Not sich befindenden Frauen.

Bereits am 8. März, zwei Tage nach Erscheinen des Interviews, schrieb der ehemalige Philistersenior der Bajuvaria Adolf Kolb (Baj) in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des ÖCV-Beirates bzw. der Verbandsführung an Heer einen in der Diktion unmißverständlichen Brief, in dem es u. a. heißt: „Wer sich in einer so grundsätzlichen Angelegenheit und einer solchen Art und Weise wie Du gegen die Auffassung der Bischöfe […] und der Verbandsführung des Cartellverbandes […] stellt, muß sich die Frage gefallen lassen, ob er es mit seinem Gewissen vereinbar hält, weiterhin einer katholischen Verbindung […] anzugehören.“

Heer hat auf das Schreiben von Kolb nicht reagiert, worauf dieser sieben Wochen später, am 26. April, Anzeige wegen Verletzung der Bundes- und Cartellbrüderlichkeit durch Friedrich Heer beim Verbindungsgericht der Bajuvaria erstattet hat. Als Grund wird die Nichtbeantwortung seines Briefes genannt. Für den 24. Mai wurde eine Verhandlung des Verbindungsgerichts angesetzt, für den Heer sich aus dienstlichen Gründen entschuldigte. Der Vorsitzende des Verbindungsgerichts war um Vermittlung bemüht. Unter seinem Vorsitz kam es am 25. Juni 1973 zu einem Gespräch zwischen Heer und Kolb. Als Ergebnis dieser Aussprache gab Heer am 28. Juni eine Ehren-Erklärung ab, die Kolb zur Kenntnis genommen und sie als ausreichend betrachtet hat. Das Verbindungsgericht sah die Causa damit als erledigt an, womit das Verfahren gegen Heer eingestellt wurde.

Heer hat nach seinem Interview in der „Arbeiter-Zeitung“ nicht nur im CV Schwierigkeiten bekam, sondern es entluden sich auf ihn zahlreiche Angriffe, Entgegnungen, Drohungen und Pressionen, die auch „sehr direkt“ gegen seine Person gerichtet waren. Um seine Haltung zur Abtreibung klarzulegen und zu präzisieren, veröffentlichte er in der „Arbeiter-Zeitung“ am 6. November 1973 einen Beitrag, wo er feststellte: „Ich bin kein Anhänger der Abtreibung. Ich sehe in ihr ein Unglück.“ Er fügte hinzu, daß eine Befürwortung der Abtreibung bei ihm in Widerspruch zu seinem dezidiert christlichen Humanismus sei. Ihm ging es vor allem um die Freiheit des Menschen und besonders um die Freiheit der Frau. Damit wäre eigentlich klargestellt, daß Heer nicht für die Abtreibung bzw. für diese als Mittel der Geburtenregelung war, sondern nur die damit verbundene staatliche Strafsanktion in Zweifel zog.

Am 9. Februar 1974 legte Heer in der „Kleinen Zeitung“ im Rahmen eines Kommentars ein beeindruckendes Bekenntnis zum CV und damit auch zur Bajuvaria ab, das bereits eingangs zitiert wurde. Um so unbegreiflicher erscheint daher der folgende Lauf der Dinge. Nach längeren und mehrfachen Bemühungen gelang es, Heer für den 14. März 1974 zu einem Vortrag auf die Verbindung zum Thema „Meinungsfreiheit in weltanschaulich ausgerichteten Vereinigungen, Meinungsfreiheit in der Bajuvaria“ zu bewegen, zu welchem Termin er zusagte.

Zwei Tage vorher sagte jedoch Heer ab, weil er dienstlich nach Stuttgart fahren müsse. Jedoch sahen ihn an diesem Abend zwei Angehörige der Bajuvaria aus dem Gartenbau-Kino kommen. Daraufhin wurde diese Angelegenheit an das Verbindungsgericht wei¬tergeleitet. Die Akten zu diesem VG-Verfahren sind nicht mehr vorhanden. Daher läßt sich der Ablauf des Verfahrens nicht mehr exakt rekonstruieren. Wohl ist aber ist die Kopie (bzw. Durchschlag) jenes Briefs vom 8. August 1974 erhalten, in dem Heer das Urteil des Verbindungsgerichts mitgeteilt wurde. Daraus geht hervor, daß dieses am 18. Juli. 1974 „zu Recht erkannt hat: Univ.-Prof. Dr. Friedrich Heer ist schuldig, durch sein Verhalten das Prinzip der Lebensfreundschaft verletzt zu haben. Er wird dafür zur Strafe des dauernden Ausschlusses (dimissio in perpetuum) verurteilt.“

Die bereit damals gehegte Befürchtung, daß es Kritik an diesem Urteil geben werde, trat ein. Franz Dienbauer (Nc) schrieb in „Academia intern“: „In seinem Roman ‚Scheitern in Wien‘ schildert Friedrich Heer das Schicksal eines Emigranten, der an seinem 60. Geburtstag nach Wien zurückkehrt und erkennen muß, daß seine ehemaligen Schulkameraden und Freunde ihm fremd geworden sind. Ähnlich geht es nun Heer selbst. Zurückgekehrt von einem Sommerurlaub auf Elba mußte er feststellen, daß Freundschaftsbande mittels Bescheid gelöst wurden. […] Ein Vortrag. Friedrich Heer soll seine Ansichten und Meinungen vor einem größeren Forum darlegen, wird von ihm kurzfristig abgesagt – eine Auslandsreise vorschützend. Aber Heer ist tatsächlich in Wien und läßt sein Auditorium warten. Und man trifft ihn sogar noch am selben Abend. Da rinnt der Bierkrug über.“

Es blieb nicht bei dieser einen Kritik. Die in den folgenden Monaten und Jahren erschienenen Würdigungen und Biographien über Heer (siehe Quellen und Literatur) erwähnen natürlich den Ausschluß aus dem CV bzw. der Bajuvaria und setzen diesen in Zusammenhang mit seinen Äußerungen in der „Arbeiter-Zeitung“ und der danach einsetzenden massiven Kritik im katholischen Milieu. Seitens der Bajuvaria hat man immer wieder versucht zu betonen, daß Heer nicht wegen seiner Äußerung zur Abtreibung, sondern wegen der Umstände des abgesagten Termins am 14. März 1974 ausgeschlossen wurde. Doch bei genauer Betrachtung erkennt man: Die Wahrheit liegt in der Mitte. Es stimmt: Der Ausschluß erfolgte wegen Heers offenbarer Lüge. Wenn man aber die vorhandenen schriftlichen Zeugnisse zur „Causa Heer“ liest, kann man sehr wohl einen Bezug zu seinen Äußerungen in der „Arbeiter-Zeitung“, zu seinem seit jeher nonkonformistischen Verhalten und zu seinem „Linkskatholischsein“ sehen. Es entstand so der Eindruck, als hätte man nur darauf gewartet, endlich das Problem Heer lösen zu können.

Heer litt seit den späten siebziger Jahren an Leukämie, der er schließlich auch erlag. Er starb in der Nacht vom 18. auf den 19. September 1983. Er vor Mitternacht, der ehemalige SPÖ-Vizekanzler und Vorsitzende der Sozialistischen Internationalen Bruno Pittermann nach Mitternacht. Heers Lebensspanne reichte somit vom Tod Kaiser Franz Josephs bis in die Spätphase des Kalten Krieges zum Tod Leonid Breschnews. Heer wurde auf dem Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab bestattet (Gruppe 33 G, Nummer 69).

Heers Couleurname lautete Stuß. Der „vorreformatorische“ Duden (1967) schreibt dazu: umgangssprachlich für Narrheit. Irgendwie paßte das zu ihm und zu all dem, was um ihn und mit ihm passiert ist.


Werke:

(Auswahl)
Die Stunde der Christen (1947).
Gespräch der Feinde (1949, span. 1962).
Aufgang Europas und Tragödie des Heiligen Reiches (1950; Habiltation)
Der achte Tag. Roman einer Weltstunde (1950, niederl. 1954).
Die Tragödie des Heiligen Reiches (1952).
Das Experiment Europas. Tausend Jahre Christenheit (1952).
Europäische Geistesgeschichte (1953, engl. 1966).
Grundlagen der europäischen Demokratie der Neuzeit (1953).
Begegnungen mit dem Feinde (1955).
Koexistenz, Zusammenarbeit, Widerstand. Grundfragen europäischer und christlicher Einigung (1956, span. 1965).
Experiment des Lebens. Von den Wegen in die Zukunft (1957, franz. 1961)-
Junger Mensch vor Gott (1957).
Land im Strom der Zeit. Österreich, gestern, heute morgen (1958).
Die Dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des Konfessionellen Zeitalters (1959).
Das reichere Leben. Gespräche eines Katholiken mit der Welt (1961).
Das Mittelalter (1961, engl., ital. u. niederl. 1962, span. 1963, hebr. 1965, schwed. 1966, portug. 1968, franz. 1970).
Offener Humanismus (1962, ital. 1966, span. 1968).
Österreich – ein Leben lang (1962).
Kirche und Zukunft (Mitverfasser) (1963, poln. 1964, span. 1968).
Europa. Mutter der Revolutionen (1964, engl. 1971, span. 1980).
Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler (1967, engl. 1970).
Das Heilige Römische Reich (1967, engl. 1968).
Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität (1968, franz. 1971).
Kreuzzüge – gestern, heute. morgen? (1969).
Katholiken sehen die an (1969).
Abschied von Höllen und Himmeln. Vom Ende des religiösen Tertiärs (1970).
Werthers Weg in den Untergrund. Die Geschichte der Jugendbewegung (1974).
Scheitern in Wien. Roman (1974).
Aster und der Alte. Roman (1974).
Europa unser (1977, niederl. 1979).
Mittelalter. Vom Jahr 1000 bis 1350 (1977).
Warum gibt es kein Geistesleben in Deutschland (1978).
Dunkle Mutter Wien, mein Wien (1978).
Der Kampf um die österreichische Identität (1981).
Der König und die Kaiserin. Friedrich und Maria Theresia, ein deutscher Konflikt (1981).
Ausgesprochen. Zusammengestellt von Franz Richard Reiter (1983).




Quellen und Literatur:

Verbindungsarchiv Bajuvaria. Akt Friedrich Heer.
Nahaufnahme Friedrich Heer, in: Österreichische Academia 17 (1965/66), Heft 8 (Mai), S. 16–19.
Augstein, Rudolf: Die perfiden Juden. Über Friedrich Heers Gottes erste Liebe, in: Der Spiegel, 1967, Nr. 37, S. 120–126.
Friedrich Heer, in: Kleine Zeitung, 9. 2. 1974
Academia intern, Oktober/November 1974 (Franz Dienbauer).
Adunka, Evelyn: Friedrich Heer. Eine intellektuelle Biographie. Innsbruck 1995.
Fellner, Fritz–Corradini, Doris A.: Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon. Wien 2006, S. 173f,
Gehler, Michael: Friedrich Heer (1916–1983), in: Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. Hg. von Heinz Duchhardt u. a. Band 2. Göttingen 2007, S. 271–293.
Die geistige Welt des Friedrich Heer. Hg. von Richard Faber und Sigurd Scheichl. Wien 1908.
Müller, Wolfgang Ferdinand: Friedrich Heer. Ein österreichischer Katholik, in: Eigensinn und Bindung. Katholisch deutsche Intellektuelle im 20, Jahrhundert. Hg. von Hans-Rüdiger Schwab, Kevelaer 2009, S. 487 – 510.
Feichtlbauer, Hubert (Kb): Der Heer-Gott wankt, in: Die Furche, 26. 11. 2009, S. 19.