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Reichskanzler Dr. Georg Graf von Hertling

Reichskanzler Dr. Georg Graf von Hertling

Urverbindung: Aenania München (15.02.1862)

Geboren: 31.08.1843, Darmstadt (Großherzogtum Hessen)
Gestorben: 04.01.1919, Ruhpolding (Kreis Traunstein, Bayern)
Deutscher Reichskanzler, Ministerpräsident (Bayern und Preußen), Mitglied des deutschen Reichstages, Mitglied des Reichsrates der Krone Bayerns, Universitätsprofessor (Philosophie), Präsident der Görres-Gesellschaft, Präsident eines Katholikentages

Lebenslauf:

HERKUNFT UND AUSBILDUNG

Hertling wurde als Sohn des Jakob Freiherrn von Hertling und der Antonie, geb. von Guaita, geboren. Sein Vater war großherzoglich-hessischer Kammerherr und Hofgerichtsrat. Über seine Mutter war er mit Clemens Brentano und Bettina von Arnim verwandt, deren Großneffe er war. Die Familie Hertling wurde 1745 in den Reichsritterstand und 1790 in den Reichsfreiherrenstand erhoben. Der Vater starb früh, als Hertling acht Jahre alt war. 1861 legte er das Abitur am Ludwig-Georg-Gymnasium in Darmstadt ab.

Anschließend begann Hertling das Studium der Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Universität Münster, wechselte aber Anfang 1862 an die Universität München, wo er der Aenania beitrat. Dort fand er jene Gemeinschaft, die er zuvor vermißt hatte. In dieser Zeit der liberalen Vorherrschaft, faßte er den Entschluß für eine akademische Laufbahn. Er studierte in Berlin weiter und schloß dort 1864 sein Philosophiestudium (Dr. phil.) ab. Danach unternahm er eine zweijährige Bildungs- und Studienreise nach Italien (1864–1866), über die er 1870 unter einem Pseudonym eine Reisebeschreibung veröffentlichte. Vom Ausgang des Krieges von 1866 enttäuscht, habilitierte er sich 1867 für Philosophie in Bonn, wo er als Privatdozent die nächsten 15 Jahre seines Lebens verbrachte.

REICHSTAGSABGEORDNETER UND PROFESSOR

Hertling nahm regen Anteil an den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen dieser Jahre, die vom preußischen Kulturkampf geprägt wurden. Als am 11. Februar 1875 der Reichstagsabgeordnete Karl Friedrich von Savigny, ein Sohn des bekannten Juristen Friedrich Carl von Savigny, plötzlich verstorben ist, mußte in dessen Wahlkreis Koblenz-St. Goar nachgewählt werden. Dieser war in fester Hand der katholischen Zentrumspartei. Der damalige Oberbürgermeister von Bonn schlug Hertling als Nachfolger vor, der dann im August gewählt wurde. Er gehörte dem Reichstag nach Wiederwahlen in diesem Wahlkreis vorerst bis Februar 1890 an. Die Zentrumspartei unter Führung von Ludwig Windthorst (AW EM) stand damals in Opposition zu Reichskanzler Otto von Bismarck, der den Kulturkampf gegen die katholische Kirche entfacht hatte.

Hertling wurde aufgrund seiner parlamentarischen Tätigkeit für die Zentrumspartei von seiner Fakultät in Bonn diskriminiert. Erst 1880 wurde er durch das Eingreifen des preußischen Kultusministeriums zum außerordentlichen Professor für Philosophie ernannt. 1882 erhielt er einen Ruf als ordentlicher Professor für Philosophie an die Universität München, der vom bayerischen Kultusministerium gegen den Willen der Philosophischen Fakultät durchgesetzt wurde. Zwei Rufe (1898 und 1900) an die Universität Bonn lehnte er ab. Seit 1896 gehörte er der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an.

Auch in Bayern war Hertling für die Zentrumspartei aktiv. Bei einer Nachwahl im Juni 1896 wurde er für den Wahlkreis Illertissen (Regierungsbezirk Schwaben) gewählt und 1898 wiedergewählt. 1903 kehrte er politisch wieder nach Preußen zurück und wurde für den Wahlkreis Münster-Coesfeld in den Reichstag gewählt und bei den nächsten Wahlen wiedergewählt. Als er 1912 zum bayerischen Ministerpräsidenten ernannt wurde, legte er sein Reichstagsmandat zurück.

Im Reichstag zählte Hertling zu den Vorkämpfern der Beendigung des Kulturkampfes. Er unterstützte 1898 die deutsche Flottenpolitik und gehörte zu den Verfechtern des vom Zentrumsführer Ernst Lieber (AIn EM) eingeleiteten Kurses der Zentrumspartei, die Reichsleitung zu stützen. (Als Reichsleitung wurde bis 1918 die Regierung des Reiches mit dem Reichskanzler an der Spitze bezeichnet.) Dadurch war das Zentrum strenggenommen nicht mehr Oppositionspartei. 1898 reiste er im Auftrag der Reichsleitung nach Rom, um kirchenpolitische Streitfragen zu regeln, so u. a. die Errichtung einer Theologischen Fakultät an der Universität Straßburg.

Zweifelsohne gehörte Hertling ab 1896 der Führungsspitze der Zentrumsfraktion im Reichstag an. In der Daily-Telegraph-Affäre vom November 1908 vertrat er eine gemäßigte Linie, und 1909 wurde er Fraktionsvorsitzender der Zentrumspartei im Reichstag. Zu den Reichskanzlern Bernhard Fürst von Bülow und Theobald von Bethmann Hollweg hatte er ein gutes Verhältnis. Im katholischen Gewerkschaftsstreit dieser Jahre vertrat er die interkonfessionelle „Köln-Gladbacher“-Linie.

BAYERISCHER MINISTERPRÄSIDENT

In seinen Münchener Jahren zur Zeit als Reichstagsabgeordneter trat Hertling als Vermittler zwischen der Krone und der bayerischen Zentrumspartei auf und hatte persönliche Beziehungen zum Prinzregenten (für den regierungsunfähigen König Otto) Luitpold und zum König Ludwig III. Als Anerkennung dafür wurde er 1891 zum lebenslänglichen Mitglied des Reichsrates der Krone Bayerns ernannt (dieser entsprach dem Herrenhaus des österreichischen Reichsrates).

Hertlings Ansehen als Zentrumsparlamentarier und Repräsentant des Politischen Katholizismus führte für ihn überraschend am 9. Februar 1912 seitens des Prinzregenten zu seiner Ernennung zum Staatsminister des Königlichen Hauses und des Äußeren sowie Vorsitzenden des Ministerrats, wie der bayerische Ministerpräsident offiziell hieß. Sie geschah u. a. in der Absicht, die durch die liberalen Beamtenministerien entstandene Gefahr des Sozialismus zu bannen und gleichzeitig die an sich oppositionelle Zentrumsparte im Landtag einzuhegen. Hertling gab daraufhin sowohl sein Reichstagsmandat als auch seine Professur in München auf. 1914 wurde er von König Ludwig III. in den bayerischen Grafenstand erhoben.

Hertling war der erste parlamentarische Politiker in diesem Amt, und es gelang ihm auch unter den schwierigen Bedingungen der Kriegsjahre, einerseits innenpolitisch ausgleichend zu wirken und andererseits eine Parlamentarisierung Bayerns zu verhindern. Er war darauf bedacht, die Verfassungs- und Gesellschaftsstruktur des Königreichs zu erhalten. Desgleichen achtete er darauf, daß die föderalistische Struktur des Wilhelminischen Reiches, das ja ein Bundesstaat war, erhalten bleibt, und wurde darin Vorbild für seine zahlreichen Nachfolger im Amt des bayerischen Ministerpräsidenten.

HERTLING ALS REICHSKANZLER

Bei den Reichstagswahlen im Januar 1912 wurde die SPD die stärkste Partei. Zusammen mit der Zentrumspartei sowie mit der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei entstand eine parlamentarische Mehrheit, die sich in den folgenden Jahren zunehmend koordinierte und schließlich aus Anlaß der Friedenresolution des Deutschen Reichstags im Juli 1917 zur Bildung eines Interfraktionellen Ausschusses am 6. Juli 1917 führte. Dieser Prozeß war die Vorstufe einer Parlamentarisierung des Reiches. Darunter versteht man die zunehmende Abhängigkeit der Exekutive von der Legislative.

Im Rahmen dieser Entwicklung stand, wie schon erwähnt, die Ernennung Hertlings als eines exponierten Vertreters des parteipolitischen Katholizismus zum bayerischen Ministerpräsidenten. Er war der einzige Parteipolitiker in der Riege der Länder-Regierungschefs. Und so war es eigentlich konsequent, daß ihm im Frühsommer 1917 von Kaiser Wilhelm II. die Nachfolge für Reichskanzler Bethmann Hollweg angeboten wurde, was aber Hertling zunächst ablehnte. Statt seiner wurde der bisherige Unterstaatssekretär im Reichsamt (so hießen bis 1918 die Reichsministerien unter der Leitung eines Staatssekretärs) für Finanzen Georg Michalis, ein Corps-Student, Reichskanzler.

Da sich dieser als nicht gerade fähig und gegenüber der Obersten Heeresleitung nicht als durchsetzungsstark erwiesen hatte, war er nicht lange im Amt. Nun lief alles auf Hertling zu, der nicht mehr ablehnen konnte. Unter Einbindung des Reichstages ernannte ihn Kaiser Wilhelm II. am 1. November 1917 zum Reichskanzler. Gleichzeitig wurde er zum Präsidenten des preußischen Staatsministeriums (so hieß offiziell der Ministerpräsident) und zum preußischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten ernannt. Damit verbunden war der Vorsitz im Bundesrat, der dem Bundesrat nach dem deutschen Grundgesetz von 1949 ähnlich war, jedoch auch Befugnisse hatte, die ansonsten einem Ministerrat zustehen. Gleichzeitig trat Hertling vom Amt des bayerischen Ministerpräsidenten zurück.

Dem Corpsbruder Michaelis folgte nun erstmals ein Cartellbruder. Dieser war jedoch nicht der erste Katholik im Amt eines Reichskanzlers, das war Chlodwig Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst von 1894–1900. Der Sohn seines Bruders Konstantin Prinz zu Hohenlohe Schillingsfürst, Erster Oberhofmeister Kaiser Franz Josephs, war der Seckauer Benediktiner und Wiener Kirchenrechtler Konstantin Philipp Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst (Kb EM). Hertling war das erste Urmitglied einer CV-Verbindung, das das Amt eines Regierungschefs eines Staates bekleidet hatte. Beachtenswert ist, daß Konstantin Fehrenbach (Hr) Anfang Juni 1918 zum Reichstagspräsidenten gewählt wurde. Damit waren die beiden höchsten nichtmonarchischen Positionen des Deutschen Reiches von Urmitgliedern des CV besetzt. Diese Konstellation sollte sich erst wieder 1959 ergeben, als in Österreich Julius Raab (Nc) Bundeskanzler und Leopold Figl (Nc) Nationalratspräsident waren.

In der Rückschau waren die elf Monate seines Amtes als Reichskanzler nicht positiv. Als 74-jähriger war er bereits körperlich hinfällig und auf die Hilfe seines Sohnes als Adjutanten angewiesen. Als „rheinischer Katholik“ und lange im katholischen Bayern Lebender fand er sich im protestantisch-preußischen Milieu der Reichshauptstadt nicht zurecht. Er war größtenteils nicht in der Lage, die politische Führung des Reiches auszuführen, und vermochte sich nicht gegen die Diktatur der Obersten Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff durchzusetzen.

Allerdings war in der Berufung Hertlings an die Spitze der Reichsleitung die politische Gleichberechtigung der deutschen Katholiken symbolisch zum Ausdruck gekommen, für die er zeitlebens eingetreten ist. Das dürfte für ihn ein Grund gewesen sein, dieses Amt auf Drängen des Kaisers anzunehmen. Er war in seinem Herzen ein Vertreter des alten Systems, das 1918 ins Wanken geraten ist, und ein Gegner der Parlamentarisierung des Reiches. Er geriet deshalb auch mit seiner eigenen Reichstagsfraktion zunehmend in Konflikt und in eine innenpolitische Isolierung, die durch die immer aussichtsloser werdende militärische Lage gefördert wurde. Schließlich trat er am 30. September 1918 zurück, als die Oberste Heeresleitung die militärische Niederlage eingestanden und Waffenstillstandsverhandlungen gefordert hatte. Sein Nachfolger wurde Prinz Max von Baden, der Thronfolger im Großherzogtum Baden.

HERTLING FÜR DIE KATHOLISCHE SACHE

Neben seinen Tätigkeiten in der Politik und an der Universität war Hertling ein bedeutender Verfechter katholischer Belange im kulturpolitischen Bereich und förderte die Anerkennung der durch den Kulturkampf und den Liberalismus verfemten katholischen Wissenschaft. Darüber hinaus bemühte er sich, die abgerissene Verbindung der katholischen Wissenschaft mit dem öffentlichen Leben wieder herzustellen.

Um dies zu bewerkstelligen, war Hertling 1876 einer der wichtigsten Gründerpersönlichkeiten der Görres-Gesellschaft, benannt nach Joseph Görres, der prägenden Figur der katholischen Romantik im Vormärz. Hertling wurde zum ersten Präsidenten gewählt und übte dieses Amt bis zu seinem Tod aus. Die Gesellschaft gab verschiedene Schriften (Bücher, Zeitschriften) heraus und erregte bei ihren jährlichen Hauptversammlungen Aufmerksamkeit in einer breiten Öffentlichkeit. Die Gesellschaft existiert nach wie vor. Neben ihrer wissenschaftlich-publizistischen Tätigkeit vergibt sie auch Stipendien. Von 2007 bis 2015 war Wolfgang Bergsdorf (St) (1941–2024) Präsident, ein enger Vertrauter von Bundeskanzler Helmut Kohl. Das Pendent in Österreich war die 1892 gegründete Leo-Gesellschaft, deren Gründungspräsident Josef Alexander Freiherr von Helfert (AW EM) war.

Hertling war durch dieses sein Engagement auch eine wichtige Leitfigur im Verbandskatholizismus, der den deutschen und österreichischen Katholizismus ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stark geprägt hat. 1889 war er Präsident des Katholikentages in Bochum und 1895 übernahm er die Leitung der Gesellschaft für Christliche Kunst (bis 1911). In den Auseinandersetzungen um Integralismus und Reformkatholizismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat er als bayerischer Ministerpräsident den Heiligen Stuhl wiederholt vor einer Verschärfung des integralistischen Kurses gewarnt und von einer „geradezu unerträglichen Situation“ für die deutschen Katholiken gesprochen.

HERTLING UND DER CV

Hertling trat zu Beginn seines Studiums in München der CV-Verbindung Aenania bei, ging aber dann bald an die Universität Berlin, wo er beim Katholischen Leseverein, der späteren KV-Korporation Askania bzw. Burgundia, aktiv wurde. Dort wurde er zu einer Schlüsselfigur der frühen Einigungsbestrebungen zwischen den katholischen Vereinen und Verbindungen, weil er sowohl Mitglied der Aenania als auch des Berliner Lesevereins war. Als Funktionär bzw. Senior („Ordner“) dieses Vereins schloß er am 11. Juni 1863 mit der Aenania und einige Monate später mit der Winfridia ein Correspondenzverhältnis ab.

Gleichzeitig beschlossen diese drei Vereinigungen, sich am 15. Katholikentag in Frankfurt/Main (20. bis 23. September 1863) zu treffen. Dort hielt der 20jährige (!) Hertling, sowohl „Ordner“ des Lesevereins wie auch Senior der Aenania, am 21. September eine vielbeachtete Rede, in der er zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auf die Notwendigkeit katholischer Studentenverbindungen hinwies und über deren Prinzipien Religion, Wissenschaftlichkeit und Freundschaft berichtete. Die Folgen dieser Rede waren zum einen weitere Gründungen derartiger Vereinigungen und zum anderen ein auf dem nächsten Katholikentag in Würzburg (1864) beginnender Prozeß, der zu den Gründungen des CV und des KV führte. Hertling stand also am Beginn der später für die Herausbildung einer katholischen Elite wichtigen Verbände des CV und des KV.

Hertling ehelichte Anna von Biegeleben, deren Familie 1893 in den großherzoglich-hessischen Freiherrenstand erhoben wurde, Es scheint kein Zufall gewesen zu sein, daß er keine zwei Monate nach Ende des Ersten Weltkriegs verstarb, das für ihn den Untergang einer Welt bedeutete hatte. Er starb in seinem Landhaus in Ruhpolding und wurde zuerst auf dem neuen (Schwabinger) Nordfriedhof in München bestattet. Später wurde sein Leichnam in die Gruftkapelle des Bergfriedhofes von Ruhpolding überführt. In Darmstadt wurde eine Straße nach ihm benannt. Der KV hat eine seiner höchsten Ehrungen „Georg-von-Hertling-Medaille benannt“. Die Schauspielerin Gila von Weitershausen ist eine Urenkelin von ihm.

Werke:

Sicilien. Schilderungen von Gegenwart und Vergangenheit (1870).
Recht, Staat und Gesellschaft (1906).

Quellen und Literatur:

Academia 16 (1903/04), 101–104, und 31 (1918/19), 239–245.
Hartmann, Gerhard: Treu zu Gott und Vaterland. Die Geschichte des CV in Österreich. Kevelaer 2023. 26, 36f., 246, 266, 295 und 302.
CV-Handbuch, Herausgegeben von der Gesellschaft für Studentengeschichte und studentisches Brauchtum e. V. Regensburg 2000, 160
Biographisches Lexikon des KV 1994, 53–56 .
Morsey, Rudolf: Georg Graf v. Hertling (1843–1919), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 20. Jahrhunderts. Hg. von Rudolf Morsey. Mainz 1973, 43–52.
Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Freiherrlichen Häuser 1909. Gotha o. J. (1909), 59 und 323f.