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MdR LAbg. Dr. Ernst Lieber

MdR LAbg. Dr. Ernst Lieber

Ehrenmitgliedschaften: Austria Innsbruck, Suevia Berlin, Winfridia (Breslau) zu Münster, Rhenania Marburg, Bavaria Bonn

Geboren: 16.11.1838, Camberg (Herzogtum Nassau)
Gestorben: 31.03.1902, Camberg (Kreis Limburg, Provinz Hessen-Nassau, Preußen)
„Zentrumsführer“, Mitglied des deutschen Reichstages, Mitglied des Abgeordnetenhauses des preußischen Landtags, Präsident des Katholikentags, Rechtsanwalt, Teehändler

Lebenslauf:

HERKUNFT UND AUSBILDUNG

Philipp Ernst Maria Lieber, so sein voller Name (Rufname Ernst), wurde als ältester Sohn von zehn Kindern eines Rechtsanwalts und Teehändlers geboren. Die Familie stammte ursprünglich aus der Schweiz, lebte dann in Blankenheim in der Eifel (Kreis Euskirchen, nunmehr Nordrhein-Westfalen) und zog dann nach Nassau. Der Vater Moritz Lieber wurde im Zusammenhang mit den „Kölner Wirren“ (1837) und der Internierung des Kölner Erzbischofs Clemens August Frhr. von Droste zu Vischering (erster preußischer Kulturkampf) verhaftet, weil er sich zu dessen Gunsten in einer juristischen Schrift einsetzte. Im Herzogtum Nassau setzte er sich ebenfalls für katholische Interessen ein, förderte das entstehende katholische Vereinswesen und war zeitweise Mitglied der nassauischen Kammer (Landtag). Er gehörte auch zu den Mitbegründern der Katholikentagsbewegung und war Katholikentagspräsident 1849 in Breslau und 1857 in Salzburg.

Das Elternhaus war demnach streng katholisch, was Lieber natürlich für das ganze Leben prägte. Er wurde zuerst durch Hauslehrer unterrichtet und besuchte ab 1849 das Gymnasium (Knabenseminar) in Aschaffenburg und ab 1854 das in Hadamar (bischöfliches Konvikt, bei Limburg), wo er 1858 sein Abitur ablegte. Danach begann er das Studium der Rechtswissenschaften in Würzburg, das er dann in München, Bonn und Heidelberg (dort Dr. iur. 1861) fortsetzte bzw. beendete. Anschließend betrieb er noch weitere Studien in München und Heidelberg mit dem Ziel der Habilitation, die er aber aufgab, um seine Mutter nach dem Tod seines Vaters (1860) bei der Führung des Teehandels zu unterstützen.

Lieber war großdeutsch (unter Einschluß ganz Österreichs) gesinnt, daher war er vom Ausgang des Krieges 1866 erschüttert. Das bislang unabhängige Herzogtum Nassau mußte seine Treue zu Österreich mit dem Verlust der Eigenstaatlichkeit bezahlen und wurde Preußen einverleibt. Lieber war nun „Mußpreuße“, blieb weiterhin großdeutsch eingestellt, arrangierte sich als Realist jedoch bald mit den neuen politischen Verhältnissen. Beruflich etablierte er sich als Rechtsanwalt, daneben führte er den elterlichen Teehandel weiter.

EINSTIEG IN DIE POLITIK

Ab Ende 1867 engagierte sich Lieber in seiner unmittelbaren Heimat für die „katholische Sache“, wobei er sich als christlichsozial bezeichnete. Er kandidierte für die am 16. März 1870 stattgefundenen Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtags, wurde gewählt und gehörte diesem nach Wiederwahlen bis zu seinem Tod an. Ebenfalls kandidierte er am 3. März 1871 bei den ersten Reichstagswahlen des neuen Deutschen Reiches, wurde gewählt und gehörte dem Reichstag nach Wiederwahlen gleichfalls bis zu seinem Tod an. In beiden parlamentarischen Gremien zählte er zu den Gründern der jeweiligen Zentrumsfraktionen.

Neben dem Doppelmandat in der Reichshauptstadt Berlin übernahm Lieber in den achtziger Jahren das Amt eines Stadtverordneten in seiner Heimatstadt Camberg und wurde auch Mitglied des Provinziallandtages der neuen preußischen Provinz Hessen-Nassau, die aus den 1866 annektierten Herzogtum Nassau und der Landgrafschaft Hessen-Kassel (ehemals Kurhessen) gebildet wurde und ihre Hauptstadt in Kassel hatte. Ab 1890 setzte er sich auch für den in diesem Jahr gegründeten Volksverein für das katholische Deutschland ein. 1885 war er Präsident des Katholikentags in München.

Dafür und für seine parlamentarischen Tätigkeiten brachte Lieber große persönliche wie finanzielle Opfer auf, die ihm nach dem Tod seiner Frau in pekuniäre Schwierigkeiten brachte. Diese, ein Tochter eines Möbelfabrikanten und 15 Jahre jünger als er, heiratete er im September 1873. Der Ehe entsprangen zwölf Kinder, von denen sich mehrere geistlichen Berufen zuwandten

Lieber zählte in den ersten 20 Jahren (bis 1891) seiner parlamentarischen Tätigkeiten zu den schärfsten Gegnern der Bismarckschen Kulturkampfpolitik und lehnte jede Form des preußischen Staats- und Machtdenkens ab. Im Sinne katholisch-sozialer Ideen zählte er in der Zentrumspartei zu den Vorkämpfern einer arbeiterfreundlichen Sozialpolitik. Ansonsten trat er im Reichstag und im Abgeordnetenhaus nicht stärker hervor. Neben wiederholten Erkrankungen (er litt an einem chronischen Magenleiden seit seiner Studentenzeit) lag das auch an gegensätzlichen Auffassungen mit dem Zentrumsführer Ludwig Windthorst (AW EM), der einen autokratischen Stil pflegte.

NACHFOLGER WINDTHORSTS

Nach dem Tod von Windthorst im März 1891 stand vorerst kein „Kronprinz“ bereit, der dessen Rolle als „geborener Führer“ des Zentrums hätte übernehmen können. Dieser hatte kein offizielles Amt (Fraktions- oder Parteivorsitzender) inne, sondern übte diese Rolle kraft seiner herausragenden charismatischen Persönlichkeit und besonderen Begabung (z. B. als Redner) aus. Erst 1893 kristallisierte sich die Führungsrolle Liebers heraus, der sich dann gegenüber anderen Spitzenpolitikern des Zentrums durchsetzen konnte. So wie Windthorst hatte auch er kein offizielles Amt inne, sondern erhielt diese Position aufgrund seiner Persönlichkeit.

Nach dem Tod Windthorst war das Zentrum von Spaltungstendenzen bedroht, die vom agrarisch-bayerischen Lager ausgingen. Denn bereits damals war das Zentrum eine soziale Integrationspartei, die unterschiedliche Schichten, wie etwa Bauern oder Industriearbeiter, unter dem Dach einer katholischen Interessenspolitik zusammenfaßte. 1893 stand Lieber als „Zentrumsführer“ vor der Schwierigkeit, wie mit der Militärvorlage der Reichsleitung (Reichsregierung) im Reichstag umzugehen sei. Die Mehrheit des Zentrums lehnte diese ab, weil sie darin eine Stärkung des preußischen Militarismus sah und weil durch sie der Militäretat auf mehrere Jahre festgelegt werden sollte, was als eine Aushöhlung des parlamentarischen Bewilligungsrechts angesehen wurde. Die Mehrheit der deutschen Bischöfe, darunter der einflußreiche Breslauer Kardinal Georg Kopp, wollte aber eine Zustimmung des Zentrums, weil sie damit im Gegenzug eine Aufhebung der Kulturkampfgesetze erhofften.

Lieber mußte nun taktisch klug vorgehen, nämlich einerseits die Ablehnung begründen, andererseits der alten Vorwürfe begegnen, das Zentrum sei national unzuverlässig. Bis auf wenige Abgeordnete stimmte die Zentrumspartei gegen die Militärvorlage, was zu Neuwahlen des Reichstags führte, aus denen sie gestärkt hervorging. Inzwischen wurde am 29. Oktober 1894 Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Er war der erste Katholik in diesen Ämtern. Sein Neffe war übrigens der spätere Wiener Kirchenrechtler und Seckauer Benedektinerpater Konstantin Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst (Kb EM).

Durch die Strategie Liebers wurde nun die Stellung des Reichstags und damit die in ihm vertretenen Parteien gestärkt, so auch die Zentrumspartei. Diese wurde nun zu einer unentbehrlichen parlamentarischen Stütze für Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst und dessen Nachfolger Bernhard von Bülow (ab 1900) sowie zum eigentlichen Träger der Reichspolitik. Zwar „nicht die Regierungspartei, aber die regierende Partei“, wie es Lieber in einer Rede im Mai 1896 vorsichtig ausdrückte. Er selber wurde gelegentlich sogar als „Reichsregent“ bezeichnet. Eines der wichtigsten und bis heute geltenden Gesetze, an denen er bzw. das Zentrum mitwirkte war übrigens 1896 das Bürgerliche Gesetz-Buch (BGB).

Hohenlohe-Schillingsfürst benützte Lieber gerne als Prellbock gegen oftmalige illusionäre Vorstellungen des sprunghaften Kaisers Wilhelm II. Somit war die Zentrumspartei unter der Führung Liebers ein unentbehrlicher Faktor im Reichstag geworden. Damit trat der parteipolitische Katholizismus auch aus seiner durch den Kulturkampf aufgezwungenen Oppositionsrolle heraus. Das war nicht nur eine eminente politische Chance, sondern brachte auch Gefahren mit sich. Denn das wichtigste Bindeglied der Partei, nämlich der Kulturkampf, begann sich abzuschwächen.

Unter der Führung Liebers wurde die Zentrumspartei im Verlauf der neunziger Jahre des 19, Jahrhundert auch Unterstützerin der deutschen Marine- und Flottenpolitik, indem sie den entsprechenden Gesetzesvorlagen im Reichstag zustimmte. Dieser Kurs wurde aber weder von den Wählern noch von Regierungs- und Hofkreisen honoriert. Das Zentrum verlor bei den Reichstagswahlen kontinuierlich Stimmenanteile, und die noch verbliebenen Kulturkampfgesetze wurden nicht beseitigt.

WÜRDIGUNG

Die Bedeutung Liebers lag darin, daß er die katholische Minderheit mit dem Wilhelminischen Reich ausgesöhnt hat. Unter seiner Führung nutzte der Politische Katholizismus seine starke Stellung im Reichstag dazu, um den Ausbau des Reiches nach innen und außen voranzutreiben, obwohl seine Vertreter nach wie vor von Regierung und Verwaltung ferngehalten wurden.

Es ist Lieber auch gelungen, das Zentrum als eine im Prinzip interkonfessionell angelegte, wenn auch fast ausschließlich von Katholiken gewählte föderalistische Reichs- und Volkspartei zu erhalten und dessen Umbildung in eine rein konfessionelle Gruppierung zu verhindern, wie es – vor allem nach 1900 – integralistische Kreise forderten. In den Jahren, in denen Kaiser Wilhelm II. sein „persönliches Regiment“ durchsetzen wollte, war er mit Erfolg auch bestrebt, den Einfluß und das Ansehen des Reichstages zu wahren.

Lieber war nach Windthorst auch der letzte „Zentrumsführer“ dieser Art, nämlich ohne Partei- oder Fraktionsamt eine derartige Führungsrolle auszuüben. Nach ihm sollte es das nicht mehr
geben. Lediglich für Preußen sollte Felix Porsch (Gu, Nc) nach 1900 eine ähnliche Rolle spielen.

„Von der demokratischen Gesinnung seiner Heimat und von starkem Ehr- und Rechtsgefühl beseelt, gehört Lieber zu den Vorkämpfern der christlichen Demokratie im konfessionellen Zeitalter.“ (Rudolf Morsey)

LIEBER UND DER CV

Als Lieber studierte, gab es noch kaum katholische Verbindungen. Als er sich später politisch zu betätigen begann, sah er in ihnen jedoch ein wichtiges Instrument der katholischen Volksbewegung. Beachtenswert ist aber, daß er früh von einer österreichischen CV-Verbindung die Ehrenmitgliedschaft verliehen bekommen hatte (Couleurname Floss). Das ist aber auf familiäre Gründe zurückzuführen. Sein jüngerer Bruder August Karl (geboren 1847) studierte in Innsbruck Medizin und trat im Herbst 1869 der Austria bei. Für diesen war der Beginn der politischen Karriere seines ältesten Bruders offenbar der Anlaß, ihm die Ehrenmitgliedschaft zu vermitteln, noch dazu wo er im Wintersemester 1870/71 Senior war.

Daß Lieber weiterhin Kontakt zum österreichischen CV hatte, beweist der Umstand, daß die Norica für ihn am 16. November 1895 eine Festkneipe veranstaltete, als er in Wien weilte. Dort hielt er auch eine Rede, in der er hervorhob, daß er nicht in die Heimat zurückehren könne, ohne der „strammen Norica“ einen Besuch abgestattet zu haben. Dabei lobte er ihre Haltung bei der Inaugurationsfeier am 24. Oktober 1895 auf der Universität Wien, wo „wehrhafte Studenten“ Angehörige der Austria und der Norica insultierten.

Im Zusammenhang mit der Austria Innsbruck sei auf einen eher skurrilen Vorgang verwiesen. Im Gegensatz zu Österreich hat sich der Politische Katholizismus in Deutschland gegenüber den Juden toleranter verhalten. Die Zentrumspartei unterstütze im preußischen Abgeordnetenhaus in der Regel die religiösen Anliegen der Juden (Vivisektion, „Schächten“). Einen Antisemitismus in der Art wie bei den österreichischen Christlichsozialen kannte man beim Zentrum nicht.

Das erregte natürlich den Unmut des antisemitischen Agitators und in Prag lehrenden August Rohling (AIn EM). Am 8. März 1895, als er schon weitgehend isoliert war, schrieb er Lieber einen Brief, wo er sich darüber beschwerte und ihm sogar unterstellte, er sei Jude (Lieber käme von Leb, Lev, Levy). Das führte natürlich zu einer ironischen Antwort Liebers. Offenbar war beiden nicht bekannt oder präsent, daß sie jeweils Ehrenmitglieder derselben Verbindung waren.

DAS ENDE

Ab 1898 verschlimmerte sich Liebers Magenleiden. Er war dadurch gezwungen, immer wieder längere Erholungspausen einzulegen. Im Herbst 1899 weilte er in Rom und wurde von Papst Leo XIII. und dem Kardinalstaatssekretär Mariano Rampolla del Tindaro empfangen. Nach seiner Rückkehr im November 1899 mußte er weiter kürzertreten, Er erschien nach einem Erholungsaufenthalt in Italien erst im Herbst 1900 wieder im Reichstag in Berlin, kehrte aber im Januar 1901 wieder nach Camberg zurück.

Nur mit Mühe konnte Lieber im August 1901 nach Osnabrück zum Katholikentag fahren, wo er die begeistert aufgenommene Schlußrede über „Papsttum und christliche Demokratie“ hielt. Dabei bezog er sich auf die von Papst Leo XIII. im Januar veröffentlichte Enzyklika „Graves de communi re“ über die christliche Demokratie als christliche Tätigkeit zum Wohle des Volkes.

Von Osnabrück reiste Lieber nach Aachen zu einer seiner Töchter, die dort Klosterschwester war. Dort erlitt er erneut schwere Anfälle, die sich – nach Hause zurückgekehrt – dort wiederholten. Er erholte sich zwar davon, starb aber am Ostermontag, dem 31. März 1902, im Alter von 63 Jahren im Kreise seiner Familie. Er wurde am 3. April am Friedhof in Camberg beerdigt. Die Exequien hielt der Limburger Bischof Dominikus Willi. Liebers Grabstein steht an der Westseite des Turms der Camberger Pfarrkirche St. Peter und Paul. Im unteren Bereich des Kurparks ist der Ernst-Maria-Lieber-Weg nach ihm benannt.

Quellen und Literatur:

Academia 8 (1895/96), S. 242, 14 (1901/02), 369f., und 15 (1902/03), 17f.
Morsey, Rudolf: Ernst Lieber (1838–1902), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Jürgen Aretz, Rudolf Morsey und Anton Rauscher. Band 4. Mainz 1980, 64–78.
Zacharias, Klaus: Die Ehrenphilister der KDStV Markomannia (= Lebensbilder aus der Würzburger Studentenschaft). Würzburg 1988, 12f.
Morsey, Rudolf: Ernst Lieber, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), 477f.
Berger, Manfred: Philipp Ernst Maria Lieber, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Band 21 (2003), 830–834.
Hartmann, Gerhard (Baj): Für Gott und Vaterland. Geschichte und Wirken des CV in Österreich. Kevelaer 2006, 111.