Lebenslauf:
HERKUNFT UND AUSBILDUNG
Vogelsang wurde als Sohn des Gutsbesitzers Karl von Vogelsang geboren, hatte von Geburt an einen Klumpfuß und wurde auf den Namen Hermann Ludolf Karl Emil lutherisch getauft. Er entstammte einer alten, weit verzweigten Familie, die sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen läßt. Die Familie Vogelsang besaß das Gut Alt-Guthendorf, das heute zur Stadt Marlow gehört (nunmehr Landkreis Vorpommern-Rügen, Bundesland Mecklenburg-Vorpommern), die damals am nördöstlichen Rand des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin lag.
Vogelsangs Vater starb bereits am Heiligen Abend des Jahres 1820, so daß er zur Erziehung in eine Lehrerfamilie nach Lübeck gegeben wurde, wo er die Volksschule besuchte. Das Gymnasium absolvierte er in Halle/Saale. Danach studierte er an den Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Bonn, Rostock und Berlin, ohne jedoch einen Abschluß zu erwerben. In Bonn trat er dem Corps Borussia bei, dem auch der spätere Kaiser Wilhelm II. angehörte, und in Rostock dem Corps Vandalia. Vogelsangs familiäre Prägung und Erziehung war eindeutig protestantisch-lutherisch bestimmt.
Nach seinen Studien trat Vogelsang auf Wunsch seines Stiefvaters in den preußischen Staatsdienst. Dieser – Kasimir Julius Gustav Hardnack – war ein preußischer Oberstleutnant, heiratete 1823 Vogelsangs Mutter, nahm den Zusatznamen von Vogelsang an und verwaltete das Gut. Nachdem Vogelsangs älterer Bruder bereits 1842 verstarb, war es klar, daß er nach dem Tod seines Stiefvaters die Gutsverwaltung übernehmen würde (dieser wird fälschlicherweise bei Weinzierl, s. u., als Gustav Harnack geschrieben, was zu Verwechslungen führt).
ÜBERTRITT ZUR KATHOLISCHEN KIRCHE
Vogelsang kam zum Kammergericht nach Berlin. Für ihn wurde das Jahr 1848 eine entscheidende Wende, weil seiner Ansicht nach der König bzw. Preußen vor der Revolution kapitulierten. Das widersprach seinen konservativen Ansichten eines mecklenburgischen Standesherrn. Da sein Stiefvater im Juni 1848 verstorben war, kehrte er nun auf sein Gut zurück, um die Leitung zu übernehmen. Dadurch wurde er als Standesherr Mitglied des Landtags des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin.
Von Preußen und dem Protestantismus gleichermaßen enttäuscht, näherte er sich der katholischen Kirche an. Zu diesem Zweck suchte er den Kontakt zu Wilhelm Emanuel Frhr. von Ketteler, der 1849/50 vor seiner Wahl zum Bischof von Mainz ein Jahr lang Propst von St. Hedwig in Berlin war. Dieser riet ihm, den Katholizismus in Bayern, wo Joseph Görres wirkte, und in Tirol unmittelbar kennenzulernen. Vogelsang tat dies und konvertierte am 31. März 1850 zum katholischen Glauben.
Seine Konversion verursachte Unruhe bei den mecklenburgischen Standesherren. Denn nach dem lutherischen Staatskirchentum hatten der Großherzog als Landesherr und der Landtag über die protestantische Kirche zu befinden. Mit Vogelsang als Landtagsabgeordneten hätte nun ein Katholik ein Mitbestimmungsrecht letztlich auch in Glaubensfragen gehabt. Daher wollte man ihm das Mandat aberkennen. Vogelsang appellierte deswegen sogar an die oberste Instanz des damaligen Deutschen Bundes in Frankfurt/Main.
Vogelsang gab nach, weil auf die Dauer ein Leben für ihn in einem protestantischen Umfeld nicht mehr möglich erschien. Er verpachtete sein Gut und zog 1854 mit seiner Frau nach Köln, wo er eine katholisch-konservative Wochenschrift herausgab, welche sich aber nicht halten konnte. Daraufhin zog er 1856 nach München, wo er das nahe der Stadt gelegene Gut Fußberg erwarb. Auf Vermittlung seines Schwiegervaters war er 1859/60 Reisebegleiter von Johann II., dem regierenden Fürsten von Liechtenstein. Dieser erhob ihn 1859 in den erblichen Freiherrenstand, der dann in Österreich anerkannt wurde.
ÜBERSIEDELUNG NACH ÖSTERREICH
1865 zog Vogelsang nach Wien, wo er das Gut Magdalenenhof am Bisamberg erworben hatte, zu der auch eine Zementfabrik gehörte. Doch seine unternehmerischen Fähigkeiten waren nicht besonders. Er geriet in finanzielle Schwierigkeiten und übersiedelte 1872 nach Preßburg. Dort veröffentlichte er Artikel in der von Georg Graf Apponyi herausgegebenen Tageszeitung „Katholik“. Im Frühjahr 1874 hielt einen Vortrag über die Soziale Frage, die ihn immer mehr beschäftigte. Die Auflage des „Katholik“ war aber zu niedrig, so daß sich Vogelsang eine breitere publizistische Basis suchte. Diese fand er in der seit 1860 existierenden katholisch-konservativen Tageszeitung „Vaterland“, die von Leopold Leo Graf Thun und Hohenstein (AW EM) gegründet und herausgegeben wurde.
1875 konnte Vogelsang in die Redaktion eintreten und übernahm die Leitung dieser Tageszeitung, die damals den deutschsprachigen Klerus und den Adel der österreichischen Reichshälfte erreichte. Das Verhältnis zwischen Vogelsang und Thun-Hohenstein war aber nicht immer leicht. Der eine war norddeutscher Abkunft, Konvertit und hatte mit heutigen Worten einen „Migrationshintergrund“, der andere war ein angesehener und in Österreich politisch wie kirchlich etablierter alteingesessener böhmischer Feudalherr.
Mit Vogelsang wurde der Ton der Zeitung nun entschiedener, und vehemente Angriffe auf Liberalismus und Kapitalismus setzten ein. In seinen zahlreichen Artikel thematisierte er immer mehr die soziale Frage. Parallel entstand ein christlich-konservativer Kreis, zu dem neben Vogelsang auch Aloys Prinz von und zu Liechtenstein (AW EM) und dessen Bruder Alfred gehörten und der sich sozialen Fragen widmete. Vogelsang gründete 1879 in Eigenregie die „Österreichische Monatsschrift für Gesellschaftswissenschaft“ (ab 1883 „Österreichische Monatsschrift für Gesellschaftswissenschaft und christliche Sozialreform“).
THEORETIKER DER CHRISTLICHSOZIALEN
In dieser Monatsschrift veröffentlichte Vogelsang 1883 seine berühmte Untersuchung „Die materielle Lage des Arbeiterstandes in Österreich“, die in der Folge auf die Sozialgesetzgebung der k. k. Regierung unter Eduard Graf Taaffe Einfluß ausübte. Im Reichsrat vertraten Vogelsangs Vorstellungen die „Sozialaristokraten“ Alois Prinz Liechtenstein und Egbert Graf Belcredi (AW EM). Vogelsang wurde zunehmend mit seinen Ansichten auch in Deutschland bekannt. Seine Vorstellungen flossen auch in die sog. „Haider Thesen“ vom Juni 1883 ein. Diese wurden vom deutschen Katholikentag des Jahres 1882 initiiert und auf dem Schloß Haid in Böhmen (heute Bor u Tachova), das Karl Heinrich Fürst Löwenstein-Wertheim und Rosenberg (AW EM) gehörte, unter dessen Vorsitz verabschiedet. An diesem Treffen der „Freien Vereinigung katholischer Soziapolitiker“ nahmen neben Vogelsang u. a. auch Joseph Franz Knab (Nc EM) und Albert Maria Adalbert Weiß (AW EM) teil.
Die Mitwirkung Vogelsangs an den „Haider Thesen“ führte zu Kontroversen innerhalb des katholischen Lagers, wobei sich Unterschiede zwischen Deutschland, wo die Katholiken in der Minderheit waren, und Österreich bemerkbar machten. Auch verschlechterte sich das Verhältnis zwischen ihm und Thun-Hohenstein. Der resignierte schließlich und gab im November 1888 die Herausgeberschaft beim „Vaterland“ auf. Die jüngere „Grafengruppe“ bzw. die „Sozialaristokraten“ setzten sich durch, und Herausgeber wurde Belcredi, der Vogelsangs vollstes Vertrauen besaß.
1887 näherte sich der bisher liberale Karl Lueger (Nc EM) den christlichsozialen Ideen an, und 1888 fand in der Villa der Gräfin Zichy-Metternich das erste Treffen mit Vogelsang statt. Lueger griff die Ideen Vogelsang auf und formulierte daraus gemeinsam mit Franz Martin Schindler (Fd EM) das Wahlprogramm der Christlichsozialen für die Reichsratswahlen des Jahres 1891, durch die der Aufstieg dieser Partei vor allem im Raum Wien und Niederösterreich in die Wege geleitet wurde. Schindler rief Anfang 1889 die sog. „Enten-Abende“ (Näheres darüber in der Biographie Schindlers) als sozialpolitisches Diskussionsforum ins Leben, bei dem auch Vogelsang mitwirkte.
VOGELSANGS IDEEN
Vogelsang wurde in seinen Ideen stark von der katholischen Romantik geprägt. Die Sozial- und Wirtschaftslehre muß auf Grundlage der christlichen Sittengesetze wieder aufgebaut werden. Ihre Grundelemente sind Liebe, Gerechtigkeit und Solidarität. Daraus ergeben sich eine ständische (korporative) Organisation der Gesellschaft sowie die Bildung eines „nationalen, gemeinsamen, ideell geteilten Eigentums“ im Gegensatz zum kapitalistischen Eigentumsbegriff.
Am dringendsten sind Reformen in der Landwirtschaft und im Gewerbe notwendig, u. a. die Grundentschuldung, genossenschaftliches Kreditwesen für Betriebsverbesserungen, Förderung des Weiterbestandes des Kleingewerbes, Mitbestimmungsrechte der qualifizierten Arbeiter, Vertretung der Arbeiter in den Handelskammern, Bemessung des Arbeitslohnes nach dem Äquivalenzprinzip der scholastischen Wirtschaftstheorie, Bekämpfung von Zins und Wucher.
Vogelsang hat als konservativer Antikapitalist dem christlich-sozialen Staat („soziales Königtum“) die Aufgabe zugedacht, die soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu überwachen. Dies sollte aber ohne jede autoritäre Lösung geschehen. Er hat durch seine Ideen die christlichsoziale Bewegung in Österreich am Anfang stark beeinflußt, auch wenn seine Thesen schon damals nicht unumstritten waren und heute wohl in vielen Bereichen nicht mehr umsetzbar sind. Er hat – obwohl nicht mehr erlebt – zum Teil die Genese der Sozialenzyklika „Rerum novarum“ von Papst Leo XIII. inhaltlich beeinflußt, und insbesondere durch seine Betonung der Prinzipien der Solidarität, Liebe und Gerechtigkeit hat er bleibende Grundlagen der Katholischen Soziallehre geschaffen.
Allerdings beschritten die Christlichsozialen in der Folge einen anderen Weg. Aufbauend auf den Ideen des Solidarismus, die vor allem von Franz Martin Schindler (Fd EM) grundgelegt wurden, konnten sie sich zu einer christlich-demokratischen sozialen Integrationspartei entwickeln. Dieser Weg war vor allem im Westeuropa nach 1945 erfolgreich. Doch damals kam es bei dieser Transformation zu Konflikten, wie das Beispiel von Anton Orel (ehemals Nc) zeigt, der die Ideen Vogelsangs radikal interpretierte.
Vogelsang erhielt wie auch andere „Sozialaristokraten“ von der Austria Wien die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Daß er das Ehrenband nur etwas mehr als ein Jahr tragen sollte, war bei der Verleihung nicht abzusehen. Am 20. Oktober 1890 abends wurde er auf dem Weg zu einem „Entenabend“ beim Überqueren der Ringstraße bei der Bellaria von einem unbeleuchteten Pferdewagen niedergestoßen und schwer verletzt. Kurze Zeit später starb er an den Folgen des Unfalls. Es war ihm nicht mehr vergönnt, den politischen Erfolg der Christlichsozialen mit seinen Ideen zu erleben.
Vogelsang wurde auf dem Penzinger Pfarrfriedhof begraben. Dessen Grab war jedoch in einem baufälligen Zustand, so daß Helmut Wohnout (Nc), Robert Rill (Rg) und Mario Strigl (AW) 2017 eine erfolgreiche Spendenaktion ins Leben gerufen hatten, so daß das sanierte Grab am 26. Juni 2018 der Öffentlichkeit präsentiert und durch den früheren Bischof von Linz Maximilian Aichern erneut gesegnet werden konnte. 1901 wurde nach Vogelsang in Wien-Margareten eine Gasse benannt. Ebenso wurde nach ihm das „Karl-von-Vogelsang-Institut zur Erforschung der Christlichen Demokratie in Österreich“ benannt. Außerdem gibt es einen alle zwei Jahre verliehenen „Karl-von-Vogelsang-Preis“ als einen Österreichischen Staatspreis für die Geschichte der Gesellschaftswissenschaften.
Werke:
(Auswahl)Die Notwendigkeit einer neuen Grundentlastung (1880).
Die Bauernbewegung in den österreichischen Alpenländern (1881).
Die Konkurrenzfähigkeit in der Industrie (1883)
Die materielle Lage des Arbeiterstandes in Österreich. 3 Teile (1883–1884).
Zins und Wucher (1884).
Quellen und Literatur:
Klopp, Wiard von: Die sozialen Lehren des Freiherrn Karl von Vogelsang. Grundzüge einer christlichen Gesellschafts- und Volkswirtschaftslehre nach Vogelsangs Schriften. Wien 1938.Allmayer-Beck, Johann Christoph: Vogelsang. Vom Feudalismus zur Volksbewegung. Wien 1952.
Görlich, Ernst Joseph (Alp): Karl von Vogelsang. Ein Mann kämpft für die soziale Gerechtigkeit. . 1968
Hanisch, Ernst: Konservatives und revolutionäres Denken. Deutsche Sozialkatholiken und Sozialisten im 19. Jahrhundert (=Veröffentlichungen des Instituts für Kirchliche Zeitgeschichte am Internationalen Forschungszentrum für Grundfragen der Wissenschaften, Salzburg. 2, 3). Wien 1975, S. 73–79.
Weinzierl, Erika: Vogelsang, in: Katholisches Soziallexikon. Hg. von Alfred Klose (Nc), Wolfgang Mantl (Nc) und Valentin Zsifkovits. Innsbruck-Graz 2. überarb. u. erw. Aulage 1980, Sp. 3266–3270.
Reichhold, Ludwig: Karl von Vogelsang. Die Grundlegung der österreichischen Sozialpolitik. Wien 1987.
Bader, Erwin: Karl von Vogelsang. Die geistige Grundlegung der christlichen Sozialreform. Wien 1990.
Rill, Robert (Rg): Vordenker der katholischen Soziallehre, in: Paneuropa 43 (2018), Nr. 14, S. 24f.
Strigl, Mario (AW): Ein Pionier der Katholischen Soziallehre, in: Österreichische Academia 69 (2018), Nr. 5 (September), S. 18f.