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em. Univ.-Prof. Dr. DDr.h.c. Michael Mitterauer

em. Univ.-Prof. Dr. DDr.h.c. Michael Mitterauer

Urverbindung: Austria-Wien (11.11.1955)

Bandverbindungen: Ne, The

Geboren: 12.06.1937, Wien
Gestorben: 18.08.2022, Wien
Universitätsprofessor (Wirtschafts- und Sozialgeschichte), ÖCV-Amtsträger (Auslandsfragen)

Lebenslauf:

HERKUNFT, AUSBILDUNG UND BRUFLICHER WERDEGANG

Mitterauer wurde als Sohn des Generaldirektors der Österreichischen Salinen, Hans Mitterauer, geboren, stammte aus Wien-Hernals und besuchte in Wien das Schottengymnasium. Nach der Matura im Jahr 1955 begann er das Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien (Dr. phil. sub ausp. praes, 1960), wo er der Austria beitrat (Couleurname Horatio). Im Wintersemester 1957/58 war er dort Fuchsmajor. Sein Leibbursch war Heribert Steinbauer (AW). Mit ihm gemeinsam wurde u. a. Michael Graff (AW) rezipiert.

Mitterauer war ab 1. September 1959 wissenschaftliche Hilfskraft und dann ab 1. Juni 1961 Assistent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Von 1959 bis 1962 besuchte er als außerordentliches Mitglied den Kurs des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung. Nach Forschungsaufenthalten, u. a. in München, habilitierte er sich im Mai 1968 in Wien mit einer Arbeit über „Zollfreiheit und Marktbereich“ im Mittelalter. Mit 28. Januar 1971 wurde er zum außerordentlichen Universitätsprofessor für Sozialgeschichte ernannt, was im Zusammenhang mit dem erweiterten Schulfach Geschichte und Sozialkunde stand. Mit 17. Januar 1973 erfolgte seine Ernennung zum ordentlichen Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. Mit 1. Oktober 2003 wurde er emeritiert.

MITTERAUER ALS WISSENSCHAFTLER

Mitterauers Schwerpunkt war ursprünglich das Mittelalter, aber relativ bald dehnte er seine Forschungen auf die Neuzeit aus. Hier interessierte ihn insbesondere die Sozialgeschichte der Familie, und da wiederum nicht das Milieu der Oberschicht, sondern das der kleinen Leute, der Bauern, der Dienstboten und Mägde sowie der Arbeiter. Die Liste seiner untenstehenden monographischen Publikationen zeigt deutlich seine Forscherinteressen. Mit seinen Arbeiten „Vom Patriarchat zur Partnerschaft“, „Ledige Mütter“, „Sozialgeschichte der Jugend“ und „Sozialgeschichte der Familie“ wurde er auch international bekannt.

Von Mitterauer wurde daher die historische Familienforschung maßgeblich mitbegründet. Sie hatte zum Ziel, die Familie in ihren unterschiedlichen Formen, Zusammensetzungen und Veränderungen darzustellen. Dabei wurde sie mit raum-, zeit- und sozial-differenzierten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontexten in Verbindung gesetzt. Damit sollten naturalisierende wie harmonisierende Geschichtsbilder über die Familie hinterfragt werden.

Anfang der achtziger Jahre gründete Mitterauer die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“. Mit dieser werden Autobiographien, Lebenserinnerungen und Selbstzeugnisse gesammelt. Aus dieser Sammlung entstand 1983 die Reihe „…damit es nicht verlorengeht“, in der solche Texte veröffentlicht wurden. Auch hier liegt der Focus nicht bei den großen Persönlichkeiten. Mit diesem Forschungsansatz gilt er als Begründer der „historischen Anthropologie“.

Mitterauer konnte bereits ab seiner Ernennung zum außerordentlichen Universitätsprofessor eine Gruppe (damals) jüngerer Wissenschaftler aufbauen bzw. heranziehen, die dann wesentlich dazu beigetragen haben, daß sich seine späteren Projekte etablieren und entfalten konnten und daß am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte eine produktive und integrative Arbeitsatmosphäre entstand. Zu diesem Kreis zähl(t)en u. a. Ernst Bruckmüller (Nc) und Roman Sandgruber (Am). Aufgrund seines Engagements bei der Hochschulreform (siehe unten) und der damit verbundenen Kontakte gelang es ihm schon früh, Drittmittel für die Forschungstätigkeit am Institut zu nutzen, 2002 – zu seinem 65. Geburtstag – wurde der Michael-Mitterauer-Preis für Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte ins Leben gerufen.

Als Achtzigjährigen beschäftigte ihn die Frage, was ein Phänomen wie die Wallfahrt nach Santiago di Compostela für existentielle Probleme von heute bedeute. Die Antwort darauf überschreite die Kompetenz des Historikers, gab er zu. Doch es bleibe die Einsicht: „Pilgerweg bedeutet Lebensweg.“

Mitterauer erhielt 2006 das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst. Diese Auszeichnung wurde 1955 zusammen mit den Ehrenkreuzen für Wissenschaft und Kunst I. und II. Klasse geschaffen und ist die höchste dieser Ehrungen. Dieses Ehrenzeichen können nur je 18 für Wissenschaft und Kunst tragen. Ist ein Platz durch Todesfall vakant geworden, schlagen die übrigen Mitglieder der betreffenden Kurie (Wissenschaft oder Kunst) einen Nachfolger vor, der dann vom Bundespräsidenten dieses Ehrenzeichen verliehen bekommt. Diese höchst seltene Auszeichnung erinnert an die ähnlichen Modalitäten des deutschen Pour le merite oder bei der Académie Française (die „Unsterblichen“).

Neben Mitterauer haben bislang nur vier weitere Angehörige des CV diese Auszeichnung erhalten: Bei der Kurie Wissenschaft der Ethnologe P. Martin Gusinde SVD (AW EM), der Kirchenhistoriker P. Hugo Rahner SJ (AlIn EM) und der Quantenphysiker Anton Zeilinger (M-D), der seit 2014 auch Vorsitzender dieser Kurie ist. Mitterauer wurde übrigens von der Kurie einstimmig vorgeschlagen. In der Kurie Kunst hat diese Auszeichnung Clemens Holzmeister (Nc) erhalten.

MITTERAUER UND SEIN ENGAGEMENT IM CV

Ausgehend vom 4. Deutschen Studententag (1956), wo über eine zeitgemäße Hochschulreform diskutiert wurde, beschäftigte sich Mitterauer als Fuchsmajor seiner Verbindung im Wintersemester 1957/58 mit dieser Thematik, so daß aus der Austria Wien jener Kreis erwuchs, der bei den damaligen Hochschulreformbemühungen innerhalb und außerhalb des ÖCV maßgeblich beteiligt war. Es seien nur die Namen Heinrich Wille jr. (AW), Manfred Leeb (AW), Karl Burian (AW), Heribert Steinbauer (AW), Werner Vogt (ehemals AW) und Michael Graff (AW) genannt.

Im Studienjahr 1957/58 hatte die Austria den WCV-Vorsitz inne, und Mitterauer war im Sommersemester 1958 WCV-Consenior. Als solcher initiierte er einen hochschulpolitischen Arbeitskreis im WCV und verfaßte ein „Hochschulprogramm des ÖCV“. Das war das erste Reformkonzept dieser Art nach 1945 und die Grundlage für die weitere Diskussion. Diese setzte der Vorort Norica (für die Studienjahre 1958/59 und 1959/1960) fort. In der Folge wurde der Entwurf eines ÖCV-Hochschulprogramms diskutiert und auf der Cartellversammlung 1960 beschlossen.

Im April 1964 wurde der bisherige Unterrichtsminister Heinrich Drimmel (NdW) von Theodor Piffl-Percevic als Unterrichtsminister abgelöst, der die Reformdiskussion fortsetzte. In diesem Jahr erschienen zwei wichtige Publikationen: Der ÖCV veröffentlichte die Schrift „Zur Frage der Hochschulorganisation“ (unter Mitarbeit von Karl Burian, Michael Mitterauer, Werner Vogt und Heinrich Wille). Und im Sommer 1964 veröffentlichten Manfred Leeb und Werner Vogt im Auftrag des Wahlblocks (Vorgängers der AG) die Programmschrift „Anregungen zur Reform der wissenschaftlichen Hochschulen Österreichs“. Beide sollten die Hochschulreformdiskussion der nächsten Jahre maßgeblich beeinflussen.

Auf der Cartellversammlung 1964 wurde die Errichtung eines „Rates für Hochschulreform“ gefordert, und Unterrichtsminister Piffl-Percevic griff tatsächlich diese Anregung des ÖCV auf und richtete im Januar 1965 zu seiner persönlichen Beratung einen Rat für Hochschulfragen ein. 37 Mitglieder hatte dieser Rat, 13 davon waren CVer, darunter Mitterauer. Dieser Rat wurde dann 1969 von Unterrichtsminister Alois Mock (Nc) übernommen, endete dann aber 1970. Nachdem sich das Allgemeine Hochschulsstudien-Gesetz (AHStG) zu verwirklichen schien, wurden Heinrich Wille, Werner Vogt, Manfred Leeb und Michael Mitterauer von der Verbandsführung des ÖCV beauftragt, die Endredaktion einer ÖCV-Resolution „Zur Frage der Hochschulreform“ vorzunehmen, die dann auf der Cartellversammlung1965 beschlossen wurde. Michael Mitterauer hat 1958 die Hochschulreformdiskussion im ÖCV initiiert und dann in den folgenden Jahren entscheidend mitgeprägt. Ihm kommt das Verdienst zu, daß in jenen Jahren der ÖCV auf diesem Politikfeld Österreichs eine maßgebliche Rolle spielen konnte

Mitterauer wurde 1959 als Nachfolger von Eberhard Tiefenthaler (Le) zum Leiter des Amtes für Auslandsfragen gewählt und war somit Mitglied des ÖCV-Beirates (Vorgänger der nunmehrigen Verbandsführung). Er zählte damit zu den Spitzenfunktionären des ÖCV. Zu den Aufgaben dieses Amtes zählte die Pflege des Kontaktes zum deutschen CV und zum Schweizerischen Studentenverein (StV), die im Rahmen verschiedener regelmäßigen Treffen abgewickelt wurden. Für das Studienjahr 1961/62 wurde erstmals ein gemeinsames Zentralthema beschlossen, das sich aber nur ein paar Jahre hielt.

Wichtig war auch der Kontakt zur Pax Romana, bei der der ÖCV Mitglied war und die damals als internationale Vereinigung katholischer Studenten- und Akademikervereinigung eine bedeutende Rolle spielte sowie eine Reihe von Veranstaltungen abhielt. Im Rahmen dieser kam es auch zu Kontakten mit dem zweiten österreichischen Mitgliedsverband, der Katholischen Hochschuljugend Österreichs (KHJÖ). In Mitterauers Bericht auf der II. CVV 1960 in Wien heißt es u. a. dazu: „Die Situation [gemeint das Verhältnis zueinander, Anm. d. Verf.] hat sich im letzten Jahr erfreulicherweise sehr verbessert. Trotzdem ist das Verhältnis der beiden Verbände nach wie vor ziemlich belastet.“

Aber bei diesem Auslandsamt ging es auch um die ausländischen Studenten in Österreich sowie um Auslandsstipendien. Anmerkenswert war seine Involvierung bei den Gegenaktionen zu den im Juli 1959 stattgefundenen kommunistischen Weltjugendfestspielen. Mitterauer trat vor Ablauf seiner Amtszeit 1962 zurück. Zu seinem Nachfolger wurde der Alt-VOP Rudolf Gruber (NdW) gewählt.

Mitterauer starb nach langer schwerer Krankheit und wurde auf dem Friedhof Wien-Neustift begraben. In der Parte der Familie heißt es über ihn: „Michaels letztes Buch trug den Titel ‚St. Jakob und der Sternenweg – mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt‘. Wie eine Pilgerreise mit all ihren Strapazen, Freuden, Gefahren sowie den Begegnungen mit Menschen und dem Heiligen gestaltete sich auch sein Leben. Die Freude am Unterrichten, am Lernen von den Studierenden und an den Erfolgen seiner Assistenten, aber auch die Mühen, wenn ein neues Buch zu schreiben war, und das Wunder, seine geliebten Enkel heranwachsen zu sehen, prägten sein volles Leben.“

Werke:

(Auswahl)
Karolingische Markgrafen im Südosten (1963).
Zollfreiheit und Marktbereich (1969).
Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel in der Familie (1977, 4. Aufl. 1991).
Grundformen alteuropäischer Sozialformen (1979).
Markt und Stadt im Mittelalter (1980).
Historische Familienforschung (1982).
Ledige Mütter. Zur Geschichte unehelicher Geburten in Europa (1983).
Sozialgeschichte der Jugend (1986, 3. Aufl. 1992).
Historisch-anthropologische Familienforschung (1991).
Familie und Arbeitsteilung (1992).
Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte (1993).
Millenien und andere Jubiläen. Warum feiern wir Geschichte? (1998).
Die Entwicklung Europas – ein Sonderweg? (1999).
Dimensionen des Heiligen. Annäherungen eines Historikers (2000).
Wege nach Wien. Migration im Rückblick (2002).
Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderweges (2003).
Sozialgeschichte der Familie. Kulturvergleich und Entwicklungsperspektiven (2009).
Historische Vermögensforschung (2013).
St. Jakob und der Sternenweg. Mittelalterliche Wurzeln ein großen Wallfahrt (2014).

Quellen und Literatur:

Aktenbestand der Ehrenzeichenkanzlei der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei (Kabinettsdirektor i. R. Heinz Hafner Am, Mitteilung 26. 8. 2022).
Zum Tod des Wiener Historikers Michael Mitterauer, in: Frankfurter Allgemeine, 26. 8. 2022, S. 12.
https://wirtschaftsgeschichte.univie.ac.at/institut/aktuelles/einzelansicht/news/nachruf-auf-em-o-univ-prof-dr-ddr-hc-michael-mitterauer-12-juni-1937-18-august-2022 (25. 8. 2022).
ÖCV-Archiv. Protokolle der II., III. und IV. Cartellversammlung. Berichte des Leiters des Amtes für Auslandsfragen.
Fellner, Fritz–Corradini, Doris A.: Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon. Wien 2006, S. 286f.
Hartmann, Gerhard (Baj): Für Gott und Vaterland. Geschichte und Wirken des CV in Österreich. Kevelaer 2006, S. 594f.